Ursula von der Leyen - Bundeswehreinsatz in Afghanistan (Resolute Support)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war vergangene Woche im Camp Marmal bei Masar-i-Scharif und habe dort auch mit afghanischen Studentinnen und Studenten gesprochen. Liebe Frau Buchholz, ich hätte gewünscht, Sie hätten als Linke die Einladung nicht ausgeschlagen, mit nach Afghanistan zu fliegen.
(Henning Otte [CDU/CSU]: Genau!)
Wenn Sie mit diesen jungen Studentinnen und Studenten gesprochen hätten und Sie gehört hätten, mit welchem Enthusiasmus, mit welcher Energie sie ihr Land aufbauen wollen, dann hätten Sie nicht so eine hoffnungslose Rede gehalten, sondern würden mir zustimmen, dass es sich lohnt, in dieses Land und die dort lebenden jungen Menschen zu investieren.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Nicht mit Militär!)
Es ist richtig: Wir dürfen nichts schönreden. Das tun wir auch nicht. Das Jahr 2015 ist ein hartes Jahr für Afghanistan gewesen. Die Streitkräfte haben zum ersten Mal alleine die Verantwortung für die Sicherheit im Land gehabt. Wir, die NATO und unsere Partner, haben uns Anfang 2015 bewusst aus dem Kampfeinsatz zurückgezogen und nur noch im Hintergrund beraten und unterstützt. Man muss deutlich sagen, dass die ursprüngliche Ankündigung der internationalen Partner, dass wir uns im nächsten Jahr aus der Fläche zurückziehen und uns ausschließlich auf Kabul konzentrieren würden, nicht ohne Wirkung geblieben ist. Das hat nämlich – das muss man sagen – die afghanischen Regierungstruppen teilweise entmutigt und die Taliban ermutigt. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir jetzt die reine Orientierung auf Zeitlinien korrigieren und stattdessen zu dem Kriterium zurückkehren, dass wir allein anhand des Fortschrittes im Land unsere Präsenz bemessen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Was sind die Lektionen, die wir gelernt haben aus diesem ersten Jahr Ausbildungs- und Beratungsmission?
Erstens. Wir brauchen eine ungeschminkte Lagebeurteilung. Der ursprüngliche Plan war zu ehrgeizig; das war zu schnell. Im vergangenen Jahr hat es viele, zu viele Anschläge der Taliban mit einer hohen Zahl von Opfern gegeben, gerade erst wieder in der vergangenen Woche in Kandahar. Aber es zeigt sich: Obwohl die Taliban überall im Land punktuell zuschlagen können – das haben wir ja in den vergangenen Monaten erlebt –, bedeutet dies nicht – das hat Herr Annen schon zu Recht gesagt –, dass es keine stabileren Regionen in Afghanistan gibt, in denen die Menschen nach afghanischen Verhältnissen einen weitgehend normalen Alltag leben können. Das heißt, den Taliban ist es nicht gelungen, ihre Ziele durchzusetzen. Sie haben es nicht geschafft, das Terrain, das sie erobert haben, auf Dauer zu halten. Vielmehr ist es den afghanischen Streitkräften gelungen, ihre Stellungen zurückzuerobern. Das hat sich letzte Woche in Kandahar gezeigt, wo sie es alleine geschafft haben. Da haben die afghanischen Streitkräfte ihr Ziel erreicht. Dafür ist ihnen Respekt zu zollen.
Zweitens. Aus der ungeschminkten Analyse der Defizite müssen Konsequenzen gezogen werden; das ist richtig. Das heißt konkret für den Norden: Das dort ansässige 209. Korps war überdehnt, weil es an zu vielen verschiedenen Punkten gleichzeitig eingesetzt wurde. Insofern ist es richtig, dass die afghanische Regierung plant, dort eine Division aufzubauen. Die afghanischen Sicherheitskräfte brauchen mehr Flexibilität, sie brauchen mehr Professionalität. Genau darauf werden wir unsere Ausbildung und Beratung im kommenden Jahr auch zuspitzen: Wir brauchen eine bessere Aufklärung. Wenn man Erkenntnisse hat, müssen wir die Fähigkeit haben, diese zu einem Bild zusammenzusetzen und danach zu handeln. Wir müssen das Führungsverhalten verbessern. Die Ereignisse von Kunduz sind vor allem aufgrund eines mangelhaften Führungsverhaltens geschehen. Außerdem muss es ein besseres Zusammenwirken von Polizei und afghanischen Streitkräften geben. Dafür werden wir unser Kontingent erhöhen, wie es in diesem Mandat vorgesehen ist.
Drittens. Unsere Botschaft „Wir bleiben länger“ ist kein Blankoscheck für Afghanistan, sondern ist mit einer klaren Erwartung an die Regierung verbunden. Die Regierung in Kabul muss die besprochenen und versprochenen Reformen in der Politik, zum Beispiel die Wahlreform, aber auch in der Wirtschaft endlich konsequent umsetzen. Ich habe diese Erwartung in meinen Gesprächen in der letzten Woche mit Präsident Ghani und dem CEO Abdullah Abdullah sehr deutlich formuliert. Es kann in der Tat nicht sein, dass wir unsere Soldatinnen und Soldaten über Jahre nach Afghanistan schicken, um zu stabilisieren und Schritt für Schritt die Eigenständigkeit Afghanistans wiederherzustellen, und gleichzeitig die ausgebildeten und wohlhabenden Afghanen das Land verlassen, weil sie keine Perspektive sehen. Nein, die Stabilisierung in Afghanistan muss aus der Mitte des Landes von den Afghanen selber geleistet werden. Das ist unsere Erwartung an das Land.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Viertens. Wir dürfen in der wirtschaftlichen Aufbauarbeit und in der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan nicht nachlassen, gerade weil wir uns militärisch weiter zurückziehen und nur noch im Hintergrund agieren. Jeder dritte Flüchtling aus Afghanistan, der nach Europa kommt, war vorher Binnenflüchtling in Afghanistan. Das zeigt, dass die Menschen weiter nach Europa ziehen werden, wenn ihnen die Perspektive im Land fehlt. Für uns heißt das: Wir müssen die Hilfsorganisationen in Afghanistan finanziell besser ausstatten und dort ansetzen. Deshalb ist es gut, dass es im Februar des kommenden Jahres eine Geberkonferenz geben wird. Es ist allemal klüger, die Hilfsorganisationen und die Entwicklungszusammenarbeit finanziell so auszustatten, dass die Menschen in Afghanistan tatsächlich eine Perspektive sehen, als dass sie ihr letztes Hab und Gut den Schleppern und Schleusern anvertrauen und wir steigende Flüchtlingszahlen hier in Europa haben. Die Arbeit in Afghanistan muss finanziell so ausgestattet sein, dass die Menschen dort tatsächlich eine Perspektive haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Fünftens. Die Nachbarn Afghanistans müssen sich mit Nachdruck und konstruktiv einbringen, vor allem Pakistan. Hier gibt es erste Schritte, die hoffnungsvoll stimmen. In der vergangenen Woche hat sich der afghanische Präsident mit dem pakistanischen Premier getroffen – Präsident Ghani ist nach Pakistan, nach Islamabad, gefahren –, und sie haben beide versichert, dass sie den Kampf gegen den Terror gemeinsam intensivieren wollen. Auch Pakistan weiß um seine Schlüsselrolle bei der Versöhnung. Sowohl Premier Sharif als auch der Armeechef haben mir gegenüber betont, dass sie wissen, dass jetzt der geeignete Moment gekommen ist, mehr zusammenzuarbeiten und mit den Taliban, die gesprächsbereit sind – das sind nicht alle; aber es gibt gesprächsbereite Taliban –, die Versöhnungsarbeit zu beginnen.
Wir sollten Afghanistan und Pakistan an diesem Punkt mit aller Kraft unterstützen; denn, meine Damen und Herren, wenn es etwas gibt, was uns Afghanistan in den vergangenen 14 Jahren gelehrt hat, dann ist es die Tatsache, dass Sicherheit, der wirtschaftliche Aufbauprozess und vor allem die Versöhnungsarbeit untrennbar miteinander verbunden sind. Deshalb ist es richtig, dass wir dieses Mandat verlängern. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das Wort erhält die Kollegin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6303122 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 146 |
Tagesordnungspunkt | Bundeswehreinsatz in Afghanistan (Resolute Support) |