18.12.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 147 / Tagesordnungspunkt 24

Hiltrud LotzeSPD - Kulturarbeit gemäß Bundesvertriebenengesetz

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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! § 96 des Bundesvertriebenengesetzes verpflichtet Bund und Länder, die Kultur und Geschichte jener Regionen im östlichen Europa zu erforschen und zu sichern, in denen früher teilweise jahrhundertelang Deutsche gelebt haben oder heute noch leben. Mehr als 20 Millionen Euro geben wir jährlich dafür aus. Das geschieht im Interesse unserer Gesellschaft, und es geschieht auch im Interesse derjenigen Menschen, die heute in den historischen Gebieten wie Ostpreußen, Pommern und Schlesien leben. Für die Partnerschaft mit unseren osteuropäischen Nachbarn ist dies von herausragender Bedeutung.

Durch die Förderung werden auch grenzüberschreitende Projekte unterstützt. Das ist im Bericht nachzulesen. Der Bericht erfährt auch immer große Zustimmung. Ein Beispiel: Wissenschaftler am Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, kurz: Nord­ost-Institut, in meinem Wahlkreis in Lüneburg forschen 2016 gemeinsam mit Historikern der Universität Breslau in dem Projekt „Juden und Deutsche im polnischen kollektiven Gedächtnis“. Auf dieser gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit gedeiht vertrauensvolle Zusammenarbeit mit vielen Partnereinrichtungen im östlichen Europa.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Nicht nur bei der Erlebnisgeneration und ihren Nachfahren ist das Interesse an Kultur und Geschichte im östlichen Europa groß, sondern auch bei den jungen Leuten, bei Schülern, bei Studierenden und bei jungen Wissenschaftlern, die sich dem Thema „Flucht und Vertreibung“ heute mit ganz neuen Fragestellungen nähern. Auch in den ehemals deutschen Siedlungsgebieten, die mittlerweile überwiegend in den Mitgliedstaaten der EU liegen, ist das Interesse an deutscher Kultur und Geschichte groß. Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt eine große Chance. Gerade jetzt in der Europakrise können wir über diesen Kulturaustausch dazu beitragen, dass nicht Ultranationalismus, nicht Abgrenzung und nicht Rassismus wieder an die Stelle von Partnerschaft, Zusammenarbeit und Versöhnung treten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich bin überzeugt, dass es die Aufgabe unserer Bundeskulturförderung sein muss, einen solch hohen Anspruch zu verfolgen.

Ich will nicht verschweigen, dass es immer wieder Kontroversen und Diskussionen um den sogenannten Kulturparagrafen gab und gibt; denn die kulturpolitischen Anliegen einzelner Interessengruppen wie etwa der Vertriebenenverbände spielen eine Rolle, wenn es um die Förderung von Projekten und Einrichtungen geht.

Nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg haben Millionen von Deutschen ihre Heimat im Osten verloren. Unsere Gesellschaft hat ihr Schicksal bis heute nicht hinreichend gewürdigt, finde ich, und auch nicht ihren Anteil am Wiederaufbau Deutschlands nach 1945.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Auch über das Trauma des Heimatverlustes darf und muss gesprochen werden. Das ist Teil unserer Geschichte.

Jedoch müssen Ursache und Wirkung, der von Nazideutschland verursachte Krieg und die dann folgenden Fluchtbewegungen in ganz Osteuropa, klar benannt werden. Deshalb darf sich die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz nicht allein an die Deutschen richten. Die Wechselwirkung mit anderen Kulturen, mit anderen Ethnien und deren wissenschaftliche Erforschung sowie die Auseinandersetzung damit müssen im Vordergrund der Förderaktivitäten des Bundes stehen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina Landgraf [CDU/CSU])

Mit der mittlerweile breit akzeptierten „Konzeption 2000“ hat die damalige rot-grüne Bundesregierung diese wissenschaftliche und fachliche Professionalisierung festgeschrieben. Seitdem hat sich Europa aber deutlich verändert: 2004 sind Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn der EU beigetreten, 2007 Rumänien und Bulgarien und 2013 Kroatien, also Länder, in denen zum Teil ehemals von Deutschen besiedelte Regionen liegen.

Genau deshalb haben sich SPD und CDU/CSU in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Förderung des kulturellen Erbes der Deutschen im östlichen Europa als Beitrag zur kulturellen Identität Deutschlands und Europas zu würdigen und mit dem Ziel verstärkter europäischer Integration die „Konzeption 2000“ anzupassen und weiterzuentwickeln. Einige kritische Anmerkungen und Hinweise zu diesem Prozess der Weiterentwicklung in Richtung Kulturstaatsministerin Grütters kann ich, auch wenn wir kurz vor Weihnachten sind, nicht vermeiden, auch wenn sie leider noch nicht hier ist: Die BKM hatte zugesagt, Eckpunkte zur Anpassung der Förderkonzeption noch vor der Sommerpause 2015 vorzulegen. Aber erst im November wurde uns ein ausformulierter Diskussionsentwurf vorgelegt. Dann musste es plötzlich ganz schnell gehen. Mit Verweis auf die Haushaltsanmeldungen für 2017 wurde großer Zeitdruck aufgebaut. Ein zuvor verabredeter Zeitplan wurde nicht eingehalten, möglicherweise in der Hoffnung – das könnte man vermuten –, die SPD würde das Papier einfach so durchwinken. Ich finde, so geht das nicht. Dieses Vorgehen ist für uns nicht akzeptabel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist vor allen Dingen deshalb nicht akzeptabel, weil das vorgelegte Papier aus unserer Sicht sehr diskussions- und kritikwürdig ist und einen unzeitgemäßen Duktus enthält.

Der im Koalitionsvertrag formulierte Auftrag ist eindeutig: Die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz soll dem veränderten europäischen Kontext angepasst werden. Zugleich muss es eine Öffnung geben, hin zu neuen Zielgruppen, zu den nachfolgenden Generationen und zur Gesamtgesellschaft. Die Förderung nach § 96 BVFG hat einen gesamtstaatlichen Auftrag. Sie richtet sich nicht ausschließlich an die Vertriebenenverbände und ihre Landsmannschaften, aber auch an diese, weil die Arbeit dieser Verbände und ihrer einzelnen Mitglieder für die Verständigung und Vermittlung mit den Nachbarn in Osteuropa auf zivilgesellschaftlicher Ebene unheimlich wichtig ist. Das Klima, das dadurch geschaffen wird, brauchen wir. Es ist unverzichtbar für ein besseres Verständnis zwischen den benachbarten Völkern der EU.

Ich will daher eindrücklich an die Kulturstaatsministerin Grütters appellieren, im anstehenden Abstimmungsprozess darauf zu achten, dass die Anpassung der Förderkonzeption diesem Anspruch gerecht wird.

(Beifall bei der SPD)

Nur so erfüllt sie einen gesamtstaatlichen Auftrag, und letztendlich sind auch nur so die erheblichen Mittel in Höhe von über 20 Millionen Euro jährlich zu rechtfertigen. Das ist ein Thema, das uns allen wichtig ist und das die ganze Gesellschaft etwas angeht.

Das gilt im Übrigen auch für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, die den Auftrag hat, das Thema „Zwangsmigration im 20. Jahrhundert“ im europäischen Kontext aufzuarbeiten. Es wird im Ausland sehr genau darauf geachtet, wie wir in Deutschland mit diesem Thema umgehen.

Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ja aktueller denn je. Staatsminister Michael Roth hat in einem Artikel in dieser Woche sehr richtig geschrieben, dass allein durch den Blick zurück Wunden und Narben von Flucht und Vertreibung nicht verheilen. Nur indem wir heute eine Erzählung finden, die die nächste Generation und ihre persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema anspricht, ist und bleibt die Stiftung wichtig und rechtfertigt die erheblichen Bundesmittel.

In den letzten Monaten wurde wegen der gescheiterten Neubesetzung mit einem Direktor erneut negativ über die Stiftung berichtet. Dabei hat die Stiftung gutes Potenzial, und sie hat gutes Personal. Damit sie dieses gute Potenzial aber entfalten kann, muss sie dahin rücken, wo sie hingehört: in die Mitte der Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es wäre ein mehr als positives Signal, wenn wir den Stiftungsrat erweitern und weitere Gruppen zur Mitarbeit einladen würden, über die Vertreter der Bundesregierung, der Regierungsfraktionen, der beiden Kirchen, des Zentralrats der Juden und der größten Gruppe, des Bundes der Vertriebenen, hinaus. Ich bin sicher, dass eine breitere Basis dazu beitragen kann, die Stiftung gut aufzustellen und von alten, einseitigen und meist negativen Zuschreibungen wegzukommen.

Denn neben der Dauerausstellung, für die nun endlich das Drehbuch entwickelt werden muss, brauchen wir jetzt eine Direktorin oder einen Direktor und einen Wissenschaftlichen Beirat, damit die Stiftung zum Laufen kommt. Sie muss endlich durch gute Arbeit und durch interessante Veranstaltungen auf sich aufmerksam machen und nicht länger durch negative Schlagzeilen. Auch hier, liebe Frau Grütters – in Abwesenheit –, sind Sie gefordert, in den nächsten Tagen und Wochen die Situation zu klären und zu befrieden. Der SPD ist diese Stiftung, die wir gemeinsam in der letzten Großen Koalition begründet haben, wichtig. Doch unsere Geduld ist auch hier endlich.

Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche allen schöne Weihnachtstage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6307665
Wahlperiode 18
Sitzung 147
Tagesordnungspunkt Kulturarbeit gemäß Bundesvertriebenengesetz
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