14.01.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 149 / Zusatzpunkt 3

Dorothee SchlegelSPD - Aktuelle Stunde zur fortgesetzten Militärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle sind entsetzt und schockiert über die terroristischen Gewaltakte des IS, die unschuldigen Menschen – vorgestern in Istanbul waren viele Deutsche darunter – das Leben rauben. Der Terror rückt näher und kann überall geschehen. Dieses Mal wurde das Herz der Türkei getroffen, Istanbul, die türkische Stadt, die Europa am nächsten ist. Der menschenverachtende IS-Terror bedroht uns alle. In unserer Freiheit und unserer Lebensweise lassen wir uns aber nicht einschränken. Hierzu sei Goethe zitiert:

Allen Gewalten  Zum Trutz sich erhalten,  nimmer sich beugen,  kräftig sich zeigen,  ...

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben gestern im Europaausschuss mit Staatsminister Michael Roth intensiv über die aktuelle Situation in der Türkei – darauf lege ich nun den Fokus – diskutiert. Die Lage in der Türkei mit Sorge betrachtend waren wir uns einig, dass ein struktureller Dialog mehr denn je nötig und wichtig ist. Die Türkei ist für mich dabei nicht nur auf den Staatspräsidenten zu reduzieren.

Mit David Bowie, der jüngst verstorben ist, könnte man fragen: Where are we now? Die EU und die Türkei stehen gemeinsam an einem Scheideweg. Ohne Not wurde der Türkei in den letzten Jahren auch von der schwarz-gelben Bundesregierung die Tür zum EU-Beitritt vor der Nase zugeschlagen. Das war ein gravierender Fehler. Unter Gerhard Schröder, also vor mehr als zehn Jahren, waren wir, was den Beitrittsprozess der Türkei betrifft, viel weiter. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses ist es für die EU momentan zweifellos kompliziert, auf die Türkei zuzugehen; denn die Türkei macht – das haben meine Vorredner schon gesagt – erhebliche Rückschritte in den Bereichen Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz. Doch wir müssen ebenso in den Fokus nehmen, welche gemeinsamen Interessen – dabei geht es um mehr als um militärische und Sicherheitsinteressen – Europa und die Türkei bei ihrer Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise verfolgen. Mit dem gemeinsamen Aktionsplan wurde im EU-Türkei-Dialog am 29. November letzten Jahres vereinbart, dass Ankara das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei zum Juli 2016 implementieren wird.

Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, die sofortige Eröffnung des Kapitels zur Wirtschafts- und Währungspolitik und die hoffentlich baldige Aufnahme der Verhandlungen über die Kapitel Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte liegen im ureigenen Interesse Europas. Darum ist es wichtig, dass die EU halbjährlich Gipfeltreffen mit der Türkei abhalten will; darum ist es richtig, dass die EU einen ständigen und hochrangig besetzten politischen Dialog einrichtet, beginnend mit Wirtschafts- und Energiefragen.

Vielfach wurde auch hier kritisiert, dass der EU-Beitritt instrumentalisiert werde. Das ist nicht falsch. Menschenrechtsorganisationen sprachen gar von einem schmutzigen Deal sowie dem Ausverkauf europäischer Werte. Aber das sehe ich nicht so. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die EU aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen hat. Diese Interessen stehen gerade heute, in Zeiten des Staatenverfalls im Nahen Osten und angesichts seiner Auswirkungen, vordringlicher denn je im Raum. Die Türkei spielt als Haupttransitland eine Schlüsselrolle in der aktuellen Flüchtlingsbewegung. Die EU ist derzeit stärker denn je auf die Türkei angewiesen, stärker als umgekehrt. Darum war es wichtig, die Türkei wieder für eine Kooperation zu gewinnen. Die von Brüssel zugesagten sofortigen und längerfristigen finanziellen Hilfen für die Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei müssen jetzt aber auch fließen. Alle EU-Mitgliedstaaten sind dringend gehalten, ihre Hausaufgaben zu machen.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach vorgestern Abend bei der Auftaktveranstaltung zum ­OSZE-Vorsitz Deutschlands von Kultur durch Dialog und von Dialog durch Kultur. So ist es: Am Dialog auf allen Ebenen geht kein Weg vorbei. Wir sollten daher die Fortführung des Beitrittsprozesses als Chance begreifen. Denn trotz des Spannungsverhältnisses wollen wir auf ein gutes Verhältnis zur Türkei nicht verzichten.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will niemand!)

Dabei vergessen wir nicht, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzufordern, auch mit Blick auf die Hinweise auf die Abschiebungen von syrischen und irakischen Flüchtlingen an der türkischen Grenze und die besorgniserregenden Entwicklungen im Südosten der Türkei. Auch die internen Friedensverhandlungen müssen dort wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.

Ich komme zum Schluss. Parallel zu jeglicher Militärkooperation in und mit der Türkei müssen auch die Kooperation und Kommunikation auf diplomatischer und zwischenmenschlicher Ebene fortgeführt werden. Hier müssen Deutschland und die EU ihr ganzes diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen. Es ist klar: Das Instrument Beitrittsverhandlungen ist, um im militärischen Jargon zu bleiben, das schärfste Schwert der EU. Denn es gilt das Primat der Friedenssicherung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächster Redner ist Kollege Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6419932
Wahlperiode 18
Sitzung 149
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur fortgesetzten Militärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei
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