Lars CastellucciSPD - Asylverfahrensgesetz - Widerrufsprüfung -
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat vorgeschlagen, das Asylverfahrensgesetz zu verändern und dort die obligatorische Widerrufsprüfung zu streichen. Dahinter steht eine Zielsetzung. Die eigentliche Zielsetzung ist, zu einer Beschleunigung unserer Asylverfahren zu kommen.
In dieser Zielsetzung stimmt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Zielstellungen der Koalition und dem Koalitionsvertrag überein. Auch wir sind dafür, die Verfahren zu beschleunigen. Ich will die Gelegenheit nutzen, zunächst einmal zu schauen, wo wir nach etwas mehr als der Hälfte unserer Regierungszeit mit Blick auf die Verfahren stehen.
Wenn ein Fahrstuhl für 20 Personen ausgelegt ist, braucht man sich nicht zu wundern, wenn er mit 400 Personen stecken bleibt. So ähnlich ist es mit unseren Asylverfahren. In den Jahren 2008 und 2009 hatten wir 23 000 bzw. 28 000 Asylsuchende in Deutschland – und auch schon 20 000 aufgelaufene, also unerledigte Verfahren. Es brauchte also nicht die knappe halbe Million Anträge vom vergangenen Jahr, um diesen Apparat zu überfordern. Der Apparat war längst überfordert. Wahrscheinlich wusste man noch nicht einmal, für wie viele Personen – auf das Bild übertragen – der Fahrstuhl eigentlich ausgelegt war.
Die Verfahrensdauer betrug in den Jahren 2008 und 2009 im Durchschnitt rund 15 Monate. Heute – das kann man an dieser Stelle sachlich sagen – liegen wir trotz der gewaltig gestiegenen Zahlen erheblich darunter. Je nach Bundesland bewegte sich die Verfahrensdauer im ersten Halbjahr 2015 – das sind die Zahlen, die mir vorliegen – zwischen 3,3 Monaten, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern, und 7,9 Monaten, nämlich in Schleswig-Holstein. Die Jahreszahlen werden aufgrund der Dynamik im zweiten Halbjahr wahrscheinlich schlechter ausfallen. Der Durchschnitt verdeckt dabei, dass es natürlich eine Vielzahl von Einzelfällen gibt, bei denen die Verfahrensdauer deutlich über diesem Mittelwert liegt.
Darüber hinaus gibt es die aufgelaufenen Fälle. Das sind mit Stand Ende letzten Jahres – ich sage das jetzt einmal sehr langsam – 364 664. Diese 364 664 Fälle gehen nicht in die Berechnung der durchschnittlichen Verfahrensdauer ein; denn in diesen Fällen ist ja noch nicht einmal ein Verfahren eröffnet worden. All denjenigen, die über Obergrenzen sprechen und begonnen haben, dafür sogar Unterschriften zu sammeln, möchte ich sagen: Mit diesen 364 664 Fällen ist für mich längst eine Obergrenze erreicht. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen unbedingt zu einem Abbau dieser aufgelaufenen Fälle kommen.
Was weiterhin nicht eingerechnet wird, ist die Zeit, die es braucht, bis überhaupt ein Verfahren eröffnet wird. Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass wir an dieser Stelle den Koalitionsvertrag unterschiedlich interpretieren. Es heißt dort – ich zitiere –:
Vor dem Hintergrund der erheblich gestiegenen Zugangszahlen im Asylbereich setzen wir uns – auch im Interesse der Schutzsuchenden – mit besonderem Vorrang für die Verkürzung der Bearbeitungsdauer bei den Asylverfahren ein.
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Die Verfahrensdauer bis zum Erstentscheid soll drei Monate nicht übersteigen.
Egal wie man diesen Satz also interpretiert, müssen wir feststellen: Wir verfehlen nach wie vor dieses Ziel. Für mich und meine Fraktion ist völlig klar: Es ist natürlich Unsinn, von einer dreimonatigen Verfahrensdauer beim BAMF zu sprechen und die Zeit, die es braucht, bis überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, nicht mit einzurechnen. Wir müssen von einer Zahl ausgehen, und wir müssen die Verfahren so verkürzen, dass niemand länger als drei Monate in Deutschland warten muss, bis eine Asylentscheidung gefallen ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gleichzeitig gibt es bemerkenswerte Fortschritte beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Daran sind die Große Koalition und die Politik natürlich nicht unschuldig. Die Zahl der Entscheidungen ist im letzten Jahr verdoppelt worden, obwohl es da noch gar nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gab, deren Stellen wir mit dem letzten Haushalt genehmigt haben. Der neue Leiter des Bundesamtes stellt uns auch in Aussicht, dass in diesem Jahr die Einhaltung der dreimonatigen Verfahrensdauer und der Rückbau der aufgelaufenen fast 370 000 Verfahren gelingen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das einmal in der Zwischenbilanz anschauen, dann ist es sehr berechtigt, hier Vorschläge zu unterbreiten, die zu einer weiteren Verkürzung und Beschleunigung der Verfahren führen können, und zwar im Interesse aller Beteiligten. Denn überlange Verfahren sind für alle eine Belastung. Sie sind nicht Ursache der Belastung. Die Ursache liegt darin, dass die Menschen überhaupt fliehen müssen. Aber wenn man nur einmal die Zeit ab dem Grenzübertritt nimmt und unterstellt, dass eine Verfahrensdauer von drei Monaten erreicht würde, dann könnten wir uns die Beschäftigung mit einigen Problemen, die in der Folge entstehen, sparen. Sie wären abgemildert oder würden gar nicht entstehen. Damit meine ich die Probleme, die einfach entstehen, wenn Menschen in Massen in Unterkünften zusammengepfercht sind, wenn sie keine klare Zukunftsperspektive haben, wenn sie im Grunde immer noch weitgehend zur Untätigkeit verdammt sind, wenn sie nicht für sich selber sorgen können, wenn sie nicht wissen, was mit ihren Angehörigen in der Heimat gerade ist. Lange Verfahren bedeuten einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Sie bedeuten geringere Chancen auf Ausbildung und Arbeit. Sie bedeuten auch, dass die Menschen, die sich für die Integration engagieren, mit ihrer Arbeit häufig ins Leere laufen; denn es werden Erfolge erreicht, und irgendwann wird den Menschen dann gesagt, dass sie nicht bleiben können. Das ist kein sinnvoller Zustand. Im Interesse von allen Beteiligten – den Ehrenamtlichen, den Hauptamtlichen, den Flüchtenden selbst – müssen wir zu einer Verkürzung der Verfahren kommen, so wie wir uns das im Koalitionsvertrag vorgenommen haben.
Dazu gibt es verschiedene Stellschrauben. Eine Stellschraube ist das Personal. Wir haben die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr als verdoppelt. Das muss jetzt erst einmal bewältigt werden. Sie müssen eingearbeitet werden, und dann müssen wir sehen, ob es reicht.
Eine weitere Stellschraube ist die Organisation. Dazu wird es heute, am späteren Nachmittag, noch eine weitere Debatte hier geben, nämlich zur Einführung des sogenannten Ankunftsnachweises. Wir haben ja miterleben müssen, dass in Deutschland bis zu viermal registriert worden ist, aber gleichzeitig die eine Behörde nicht die Daten der anderen nutzen konnte. Diesen Zustand wollen wir mit dem sogenannten Ankunftsnachweis beenden. Das ist eine überfällige und sehr richtige Maßnahme.
Auch die Flüchtlinge selbst können natürlich zur Beschleunigung der Verfahren beitragen. Eines der größten Hindernisse für schnelle Verfahren ist die fehlende oder mangelnde Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung. Auch hier sind kreative Ideen gefragt, wie wir das verbessern können. Wir müssen den Behörden möglicherweise mehr Mittel in die Hand geben, damit das funktionieren kann.
Als Stellschraube gehört natürlich auch dazu, zu überlegen, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht von Aufgaben entlastet werden kann, die es eigentlich zu erledigen hat, die aber im Moment keinen Beitrag dazu leisten, die Verfahren zu beschleunigen. Deswegen bin ich dankbar – das diskutieren wir schon seit längerem – für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich wünsche mir, dass wir darüber im Ausschuss offen beraten.
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehe ich nicht!)
Welche Dinge sind relevant? Wir haben jetzt Vorschläge dazu. Zum einen müssen sie – das ist klar – der Sache dienen; das würde dieser Vorschlag. Zum Zweiten muss die Sicherheit gewährleistet sein. Wir wollen weder Hoppladihopp-Verfahren, die die Rechtsstaatlichkeit infrage stellen, was die Verfahren der Flüchtlinge angeht, noch wollen wir zu weiterer Unsicherheit beitragen. Auch hier besteht nicht die Gefahr, dass der Antrag einen Beitrag in die falsche Richtung leistet.
Wir sind auch gefordert, in andere Länder zu schauen. Der Kollege Meier hat die Schweiz genannt. Ich hatte heute Gesprächspartner aus den Niederlanden im Büro. Dort ist die Rechtsberatung eingewoben in das Asylverfahren. Damit spart man sich auf lange Sicht, dass die Verfahren infrage gestellt werden und sich nach hinten verzögern.
Kurzum: Alles, was helfen kann, sollte in der Situation, in der wir sind, ohne Schaum vor dem Mund und ohne ideologische Scheuklappen betrachtet werden. Deswegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, dass wir im Ausschuss noch einmal darüber reden.
Um wen geht es? Ich komme einmal auf die langen Linien zu sprechen. Es geht um diejenigen, die hier als Flüchtlinge anerkannt sind. Es geht um diejenigen, die bereits drei Jahre hier leben. Es geht um diejenigen, die ihre Kinder hier schon zur Schule schicken, die die Sprache bereits können – bei den Kindern geht das erstaunlich schnell –, die ihren Lebensunterhalt bereits selbst finanzieren können, die in eigenen Wohnungen leben können. Mit anderen Worten: Es geht um diejenigen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, aber schon auf dem besten Weg sind, die Freunde, die Nachbarn und die Kolleginnen und Kollegen der Zukunft zu werden. Mit Blick auf die langen Linien prophezeie ich, dass wir den Tag erleben – er wird nicht so schrecklich fern sein –, wo sich die Lage insgesamt beruhigt. Dann werden wir angesichts unserer demografischen Entwicklung froh sein über jeden, der nach drei Jahren mit Kindern in der Schule, mit Arbeit und Wohnung integriert ist. Abseits von der humanitären Verpflichtung, die wir haben, droht uns, dass wir, wenn wir Menschen nach drei Jahren zurückschicken, gerade diejenigen zurückschicken, die wir hier am besten brauchen können, die hier schon auf dem Wege der Integration sind.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hier sind wir schlecht beraten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Montesquieu hat den berühmten Satz gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Er hat auch gesagt: „Überflüssige Gesetze tun den notwendigen an ihrer Wirkung Abbruch.“ Das ist kein genialer Satz, aber ein richtiger.
Ich wünsche uns gute Beratungen im Ausschuss.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Kollegin Barbara Woltmann hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6420621 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 149 |
Tagesordnungspunkt | Asylverfahrensgesetz - Widerrufsprüfung - |