Michael Roth - Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2016
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die große Zahl an Flüchtlingen, die derzeit nach Europa kommen, die Wirtschaftskrise, die sich vor allem in einer viel zu hohen Jugendarbeitslosigkeit in viel zu vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union manifestiert, der Vormarsch von Nationalisten und Populisten, die Kontroverse über die Bedeutung der Grundwerte in der Europäischen Union, das Referendum über die Zukunft des Vereinigten Königreichs in oder außerhalb der Europäischen Union: Das sind einige Schlaglichter der derzeitigen Debatte um die Europäische Union, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damit noch nicht alle Krisen und Bewährungsproben beschrieben habe.
Umso wichtiger ist es, dass die Europäische Kommission die Zeichen der Zeit erkannt hat. „ Jetzt ist nicht die Zeit für Business as usual“: Das ist der Titel des Arbeitsprogramms der Kommission 2016. Ja, da hat die Kommission völlig recht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben hier im Deutschen Bundestag schon seit vielen Jahren immer wieder auch über das Arbeits- und Legislativprogramm der EU-Kommission gesprochen. Ich selbst habe mir einmal die eine oder andere Rede angeschaut, die ich noch als Bundestagsabgeordneter hier gehalten habe,
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bist du immer noch!)
und ich stellte dabei fest, dass ich sicherlich auch zu denjenigen hier im Parlament gehörte, die bisweilen sehr hart mit der Europäischen Kommission ins Gericht gegangen sind.
(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Zu Recht!)
Ich war sicherlich nicht der schärfste Kritiker, aber auch ich habe deutliche Worte gefunden.
(Zuruf von der LINKEN: Das hast du nie!)
Die EU-Kommission taugt derzeit nicht als Fußabtreter der Europäischen Union. Wir haben es nicht mit einer Krise der EU-Institutionen zu tun. Wir haben es mit einer Krise aus einem Mangel an Solidarität und Teamgeist und einem Übermaß an nationalen Egoismen zu tun. Das ist die eigentliche Krise. Deshalb – das sage ich leichten Herzens und auch dankbar – hat die Kommission auf vielen Politikfeldern zu liefern gesucht.
Juncker versteht sich und seine Kommission vor allem als politischen Impulsgeber und als Antreiber und nicht als bloße Verwaltungsmaschinerie, und die Bundesregierung unterstützt die Kommission und ihren politischen Gestaltungsanspruch ausdrücklich.
Juncker hat vor einigen Monaten gesagt:
Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union.
Ja, da hat er wohl recht. „ Mehr Union“ heißt eben nicht, noch mehr Regelungen im Detail, sondern mehr Gemeinsamkeit und Konzentration auf das Wesentliche.
Ich will die großen Bewährungsproben, denen wir derzeit ausgesetzt sind, nur sehr schlaglichtartig beschreiben und mit der Flüchtlingspolitik beginnen. Hier ist ein Kurswechsel nötig. Deutschland leistet viel, Schweden, Österreich und auch Griechenland stoßen an ihre Grenzen. Aber wir haben mit der EU-Kommission einen Verbündeten.
Wenn ich mir die derzeitigen Vorschläge zur Stärkung der EU-Außengrenzen und die Vorschläge der Kommission zum erweiterten Mandat von Frontex und zum Ausbau zu einer Küstenschutz- und Grenzschutzwache vor Augen führe, dann sage ich: Richtig so, aber wir brauchen eben auch eine breite Mehrheit in der EU, bei unseren Partnern und Freunden in den EU-Mitgliedstaaten.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU])
Ich bin einmal gespannt, wie die Debatte weitergeht. Demnächst wird die EU-Kommission Vorschläge zur grundlegenden Reform des Dublin-Systems auf den Tisch legen, und ich bin mir ziemlich sicher: Auch hier werden wir ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Vorschlägen der Kommission feststellen. Umso wichtiger ist es, dass dieses Bündnis zwischen der Kommission und der Bundesregierung, getragen von vielen Abgeordneten im Deutschen Bundestag, hält und stabil bleibt.
Ich will einen weiteren wichtigen Punkt benennen, der uns hier im Bundestag über viele Jahre hinweg umgetrieben hat. Die strategische Agenda der EU-Kommission liegt genau auf der Linie der Koalitionsfraktionen und – darüber hinaus – auch weiterer Akteure. Wir brauchen in der EU endlich eine Politik für Wachstum und Beschäftigung, eine Politik, die sich dem Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, vor allem der jungen Menschen, entschieden stellt.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal der Troika!)
Auch hier hat die EU-Kommission eine Reihe von vernünftigen, zukunftsweisenden Vorschlägen auf den Tisch gelegt.
Jeder Jugendliche, der keinen Arbeitsplatz und keine Perspektive hat, ist einer zu viel. Das ist nicht eine rein nationale Aufgabe. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, der wir uns in der Europäischen Union stellen können. Wir selbst wissen ja: Mit unserer starken Wirtschaft in Europa, mit unserem stabilen Sozialstaat haben wir jungen Leuten aus anderen Ländern der Europäischen Union eine Perspektive eröffnet. Aber das kann nicht die einzige Lösung sein. Vielmehr brauchen wir ordentliche Perspektiven in den jeweiligen Heimatländern der Jugendlichen.
Wir verstehen uns auch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, als der Oberlehrer in der EU, der erst einmal auf die anderen weist. Nein, wir wollen in der Europäischen Union ermutigen und ermuntern. Wenn ich mir einmal unsere Flüchtlings- und Migrationspolitik anschaue, dann stelle ich fest, dass sie von Mut und Ermunterung geprägt ist. Wir versuchen, Schengen zu retten. Wir tun eine Menge dafür, dass das, was für die Bürgerinnen und Bürger seit vielen Jahrzehnten spürbar und erfolgreich ist, auch eine Zukunft hat. Auch hier setze ich auf eine enge Abstimmung zwischen Deutschland und der Kommission.
Die Krisen erfordern eben nicht einfach ein Weiter-so, sondern ein entschiedenes Handeln. Ich weiß, wie wir mit den vielen Krisen in der Vergangenheit umgegangen sind. Die einen sagten: Die EU ist aus den Krisen immer gestärkt hervorgegangen. – Daran ist manches richtig. Die anderen wiederum sagten: Es ist noch immer gut gegangen. – Na ja, und da gab es vielleicht auch noch den einen oder anderen, der sich dafür nicht sonderlich interessiert hat. Ich glaube, jetzt, in dieser dramatischen Lage, in der wir uns befinden, hilft es nichts, EU-Bashing zu betreiben.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie sind Mitglied der Bundesregierung!)
Was hilft, ist, Europa mit konkretem Handeln wieder fit zu machen. Von Deutschland als stärkstem Land in der Mitte der Europäischen Union geht eine ganz besondere Verantwortung aus.
Ich stelle mir natürlich folgende Fragen: Wie geht es in dieser immer heterogener werdenden Union weiter? Brauchen wir möglicherweise mehr Differenzierung? Müssen die Staaten, die entschieden in eine Richtung gehen wollen, möglicherweise vorangehen? Meines Erachtens ist ein solches Europa der Tempomacher möglicherweise besser als ein Europa des Stillstands oder gar des Rückschritts. Rückschritt brauchen wir nicht. Differenzierung tut not.
Insofern bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Arbeitsprogramm der Kommission genauso kritisch wie immer, aber auch nicht minder konstruktiv zu begleiten. Ich wünsche mir, dass das eine oder andere, was sich im Arbeitsprogramm wiederfindet, vom Deutschen Bundestag aktiv begleitet werden könnte. Dafür bitte ich Sie um Unterstützung. Ich freue mich jetzt auf die Debatte.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6479539 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 152 |
Tagesordnungspunkt | Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2016 |