Andrea LindholzCDU/CSU - Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2016
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrem Arbeitsprogramm 2016 betont die Kommission, dass Europa vor nie dagewesenen Herausforderungen steht. Viele warnen heute schon vor dem Ende Europas, dem Zerfall des Schengen-Raums und der Euro-Zone. Diese Warnungen haben einen ernsten Hintergrund; denn Europa steht aktuell nicht nur vor einer, sondern vor vielen Krisen gleichzeitig.
Die institutionellen Schwächen der Euro-Zone wurden bisher nur teilweise beseitigt. Hohe Staatsdefizite, instabile Banken und verschleppte Strukturreformen halten die Euro-Krise virulent. Die hohe Arbeitslosigkeit und auch die wirtschaftliche Schwäche einiger EU-Staaten schwächen zum einen unseren Export und liefern zum anderen den Nährboden für Radikalismus und Nationalismus. In Frankreich liegt der Front National bei 28 Prozent. Großbritannien droht mit dem EU-Austritt, was für uns ein gewaltiger Verlust wäre.
An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Angleichung von Sozialstandards in der EU eingehen. Ja, sie sind richtig, und sie sind wichtig. Allerdings sollten wir die Kritik der Briten näher betrachten und ganz genau zuhören. Wenn wir gleiche soziale Standards in Europa fordern, dann, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, müssen wir uns auch die Frage gefallen lassen, warum wir als Deutsche für Kinder, die in Rumänien leben, das gleiche Kindergeld zahlen wie für Kinder, die in Deutschland leben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das darf nicht der Fall sein. Die Reformen müssen daher in beide Richtungen gehen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Kommission hat das Freihandelsabkommen TTIP zur Top-Priorität erklärt. Es soll die Grundlagen für neues Wirtschaftswachstum in Europa schaffen. Wir alle kennen die Vorbehalte gegen TTIP; wir hören sie und haben sie zum Teil auch selber. Es ist Aufgabe von uns Parlamentariern, diese berechtigten Bedenken zu prüfen.
Uns fordern aber auch die Kriege in der Ukraine und in Syrien sowie die Instabilität im arabischen Raum. Das alles ruft Fanatismus und Terrorismus hervor.
Die aktuell größte Bedrohung und größte Herausforderung ist allerdings die unkontrollierte Zuwanderung nach Europa, insbesondere nach Deutschland. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ist erschüttert. Sehr geehrter Herr Kollege Sarrazin, Europa muss alles daransetzen, um auf diese Flüchtlingskrise eine europäische Antwort in Form einer gemeinsamen Asylpolitik zu finden. Das stellt kein Mitglied und keine Fraktion in diesem Haus infrage.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sehr geehrter Herr Kollege Ulrich, wenn Sie im Zusammenhang mit der Asylthematik, obwohl wir in Deutschland über 1 Million Menschen aufgenommen haben – die Menschen in diesem Land haben Großartiges geleistet, und wir im Deutschen Bundestag haben in den letzten Monaten insgesamt sechs Gesetzespakete auf den Weg gebracht, um die Integration zu verbessern, aber auch, um Fehlanreize zu vermeiden und Abschiebehindernisse zu reduzieren –, von einem „Totalversagen“ des deutschen Staates sprechen, dann finde ich das völlig neben der Sache liegend. Ich muss ehrlich sagen: Ich kann verstehen, dass Menschen europa- und politikverdrossen sind, wenn wir bei unserer Wortwahl nicht aufpassen, wenn wir nicht aufpassen, wann wir von einem „Totalversagen“ sprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wenn Sie Ihre Ernsthaftigkeit in Sachen europäischer Flüchtlingspolitik dadurch unter Beweis stellen wollen, dass Sie sagen, wir bekämen gerade von den anderen Staaten eine „Retourkutsche“,
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch so!)
dann muss ich dazu sagen: Auch das ist unangemessen und unangebracht angesichts der Leistung, die in Deutschland gerade erbracht wird. Wenn die Politik in Europa davon bestimmt wird, dass man sich gegenseitig Retourkutschen verteilt, kann ich verstehen, dass die Menschen mit der Politik nicht mehr viel anfangen können, dass sie politikverdrossen und europaverdrossen sind. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, in unseren Reden darauf hinzuweisen und mit solchen Begriffen vorsichtig umzugehen.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das müssen Sie der Bundesregierung sagen! Sagen Sie das einmal Herrn Seehofer!)
– Ich komme ganz sicher noch auf Herrn Seehofer zu sprechen; Sie bieten mir so schöne Vorlagen.
(Lachen des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])
Wir wollen eine gemeinsame Europapolitik. Es nützt nichts, wenn im Programm der Kommission vieles steht: Frontex-Einsätze verstärken, Dublin-Verordnung reformieren, Solidaritätsmechanismen einführen. Das sind alles wichtige und richtige Maßnahmen. Wir brauchen auch gemeinsame Kontingente in Europa und eine gemeinsame Solidaritätsanrechnung, weil es natürlich nicht sein kann, dass es einzelne Länder gibt, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens die Hauptlast tragen. Aber Europa muss auch handeln. Es genügt nicht, dass in dem Programm steht, dass die Kommission bis Ende des Jahres Vorschläge vorlegt, wie gewisse Dinge überhaupt umgesetzt werden sollen. Das dauert nämlich zu lang für Deutschland. Wir können nicht warten, bis man sich in Europa irgendwie einigt. Auch wir hoffen auf eine Einigung in Europa; aber die Beschlüsse, die vereinbart wurden, wurden bisher noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt. 322 Flüchtlinge von 160 000 sind verteilt worden.
Wer von Ihnen war schon einmal in Bayern – das frage ich in jeder meiner Reden – und hat sich die Verhältnisse an der Grenze vor Ort angeschaut? Wer hat mit unseren Bürgermeistern und Landräten gesprochen, und wer weiß, wie es ist, wenn tagtäglich Tausende und Abertausende Menschen nach Bayern strömen? Wenn es in Europa keine zügige, keine zeitnahe und keine vernünftige Lösung gibt, dann hat Horst Seehofer das gute Recht, darauf hinzuweisen,
(Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: „Hinweisen“ ist etwas anderes! Hinweisen kann er!)
dass beispielsweise Griechenland seiner Verpflichtung zur Außengrenzensicherung nicht nachkommt und ein unkoordiniertes Durchleiten von Flüchtlingen bis nach Deutschland bei uns zu Problemen führt und wir deshalb sehr wohl darüber nachdenken müssen – dazu sind wir verpflichtet –, ob wir Grenzkontrollen einführen und stufenweise Zurückweisungen vornehmen, wie das jetzt zum Beispiel schon gemacht wird, wenn die Leute klar sagen, dass sie kein Asyl in Deutschland beantragen wollen.
Kollegin Lindholz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Ich lasse sie gleich zu. Ich möchte den Gedanken noch zu Ende führen. Danach gerne. – Wenn es in Europa keine zügige Lösung gibt, dann müssen wir auch über diese Maßnahme nachdenken. Wenn wir diese Auffassung vertreten, heißt das nicht, dass die CSU oder Horst Seehofer unsolidarisch ist oder gar eine gegen Europa gerichtete Politik betreiben möchte.
Jetzt gestatte ich die Zwischenfrage.
Die Kollegin Baerbock wünscht, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen. Da Sie es gestattet haben, hat sie jetzt das Wort.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Sie haben angesprochen, dass 160 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umverteilt werden sollen. Sie haben gesagt, dass alle ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Wie erklären Sie sich dann – Sie haben die 300 angesprochen, die bisher umverteilt wurden –, dass Deutschland das zugesagte Kontingent auch nicht umverteilt hat und bisher erst 27 aufgenommen hat?
(Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: 1,4 Millionen! Mein Gott!)
Was unternehmen Sie als Regierungsfraktion, damit wir unserer eigenen Zusage bei der Umverteilung der 160 000 aus Griechenland gerecht werden? Während zum Beispiel Bulgarien – das haben wir gemeinsam gestern im Europaausschuss erfahren – sein Kontingent schon aufgenommen hat, meldet Deutschland hier einfach nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])
Frau Kollegin, wir haben in Deutschland über 1 Million Menschen aufgenommen. Das ist weit mehr als in diesem Kontingent. Punkt eins.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/CSU]: Dümmer geht es nimmer! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden Sie ja falsch! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Brutto, nicht netto! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind Mehrfachmeldungen dabei!)
Punkt zwei. Ich habe nicht davon gesprochen, dass diese Flüchtlinge auf Italien und Griechenland aufzuteilen sind.
(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ganz schwach!)
Ich bin also der Auffassung, dass die Kommission in ihrem Programm viele gute und viele richtige Vorschläge unterbreitet hat. Es genügt uns aber nicht, wenn diese Vorschläge nicht umgesetzt werden, wenn das Dublin-Verfahren beispielsweise nicht reformiert wird und Vorschläge dazu nicht schnell genug vorgelegt werden. Europa muss in dieser Lage so schnell handeln, wie Europa in der Lage war, bei der Euro-Krise zu handeln. Das können wir an dieser Stelle auch einfordern.
Ich möchte noch einmal betonen: Nicht Deutschland hat sich in den letzten Monaten einer europäischen Lösung verschlossen. Wir haben in den letzten Monaten viele, viele Hunderttausende, ja Millionen von Flüchtlingen aufgenommen und auch für die Zukunft die Bereitschaft erklärt, dass wir uns mit den Leidtragenden der Krisen der Welt solidarisch zeigen. Hierzu gehört auch, dass wir erkennen und begreifen, dass die Entwicklungshilfe, die Hilfe vor Ort – wir reden immer wieder davon – das Mittel ist, das wir verstärkt einsetzen müssen. Wir sind nicht auf einer einsamen Insel. Wir sind auf die anderen europäischen Staaten angewiesen. Wir sind bei der Entwicklungshilfe auch auf die Weltgemeinschaft angewiesen. Da kann man es sich nicht einfach machen und so tun, als ob wir in Deutschland nicht genug zur Bewältigung der Krisen beitragen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte mit einem Zitat von Konrad Adenauer schließen. Er hat gesagt:
Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6479738 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 152 |
Tagesordnungspunkt | Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2016 |