Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 18./19. Februar 2016 in Brüssel
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Jahr 2016 wird zu einem Schicksalsjahr für Europa und damit auch zu einem Schicksalsjahr für unser Land. Im Jahr 2016 entscheidet sich wie noch in keinem anderen Jahr zuvor, ob die Europäische Union in Zukunft in der Lage ist, große Herausforderungen zu bewältigen, oder ob sie sich im Klein-Klein von Bürokratie erschöpft.
Das Jahr 2016 wird durch die Entscheidung, die in Großbritannien auf der Tagesordnung steht, zu einem Schicksalsjahr. Von der Bundeskanzlerin, aber auch von anderen Vorrednern ist etwas zu dem Satz deutlich gemacht worden, den man in den Wahlkreisen, bei Veranstaltungen immer wieder hören kann: Na und? Wenn die Briten nur noch Extrawürste wollen, dann sollen sie eben gehen. – Man kann sich natürlich bei mancher Forderung, die aus Großbritannien kommt, fragen: Muss das wirklich sein? – Aber darüber wird ja nun bei diesem Gipfel gesprochen. Eines ist klar – dazu braucht man kein Hellseher oder Prophet zu sein –: Wenn Großbritannien sich entschließen würde, die EU zu verlassen, sähe diese EU ganz anders aus und auf jeden Fall nicht stärker, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen ist es nun die nicht ganz leichte Aufgabe, aus den Forderungen, die aus Großbritannien kommen, und den Vorschlägen, die von der Kommission gemacht werden, das Paket herauszukristallisieren, das – auch in unserem Land – akzeptiert werden kann und das auch Großbritannien dazu veranlassen kann, dabeizubleiben.
Ich glaube, dass man in den Grundfragen, die jetzt gestellt werden, durchaus zu Kompromissen kommen kann. Aber ob die Menschen in Großbritannien sich im Herbst für den Verbleib in Europa aussprechen,
(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Ist eine ganz andere Frage!)
hängt, glaube ich, nicht in erster Linie davon ab, was jetzt miteinander vereinbart wird, sondern es hängt davon ab, was für einen Eindruck die EU zum Zeitpunkt der Entscheidung der Menschen in Großbritannien macht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Deshalb ist das, was in der nächsten Zeit – am zweiten Tag in Brüssel, aber auch in den Tagen danach – in Europa passiert, von entscheidender Bedeutung.
Kollege Oppermann hat zu Recht darauf hingewiesen: Wenn immer mehr der Eindruck entsteht, dass in schwierigen Fragen der Nationalstaat die besseren Lösungen hat, dann wird man die Menschen in Großbritannien weniger davon überzeugen können, dass man gemeinsam Lösungen suchen muss. Ich kann nur sagen: Wir haben doch aus unserer Geschichte gelernt, dass die großen Aufgaben, die großen Herausforderungen, die in der Vergangenheit zu großen Kriegen geführt haben, eben gerade nicht von den Nationalstaaten gemeistert werden können, sondern dass dafür die Zusammenarbeit in der EU notwendig ist. Dass wir 70 Jahre ohne Krieg in Europa leben, verdanken wir nicht den Nationalstaaten in Europa, sondern der Gemeinschaft der Europäer.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen, dass in Europa klar wird, dass die größte Herausforderung, die wir haben – ich sage: die größte nach dem Zweiten Weltkrieg –, die Flüchtlingsbewegungen sind. Da möchte ich schon klarstellen: Es geht in erster Linie darum, dass eine gemeinsame Aufgabe, die wir in Europa vereinbart haben, jetzt auch gemeinsam durchgeführt wird, nämlich der Schutz der Außengrenzen. Es hat niemand behauptet, dass wir keine Grenzen schützen und sichern wollen. Unsinn, wenn das gesagt wird! Vielmehr ist immer gesagt worden: Wir wollen dieses Europa, wie es in den letzten Jahren gewachsen ist, dieses Europa der Freizügigkeit, des freien Verkehrs von Waren und Menschen, erhalten; aber wir wollen natürlich auch die Kontrolle an unserer gemeinsamen Außengrenze behalten, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
Dafür sind jetzt erste Vereinbarungen getroffen worden. Ich kann nicht erkennen, dass es eine Verbesserung der Lebensqualität in Europa wäre, wenn jeder kleine Staat in Europa oder auch die größeren Staaten wieder eine eigene Grenzsicherung vornähmen.
(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das führt nicht zu dem Ziel, das wir in Europa miteinander erreichen wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb ist die große Aufgabe die Sicherung der Grenzen.
(Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein!
(Zuruf von der LINKEN: Angsthase!)
– Ich will Ihnen einmal eines sagen: Es wäre gut, wenn Sie einem Gedanken einmal eine Viertelstunde folgen und sich nicht immer so aufführen würden, wie Sie es hier auf der linken Seite immer tun.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])
Wir müssen die europäische Außengrenze sichern. Dies können wir nicht allein, sondern dazu brauchen wir auch die Türkei.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wann kommt der Gedanke?)
– Bei Ihnen – da bin ich sicher – gar nicht!
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir brauchen also jetzt die Türkei. Insofern kann ich verstehen, dass kritische Fragen kommen. Auch ich habe Fragen an die Türkei. Wir vonseiten der CDU/CSU-Fraktion haben die Bundesregierung gebeten, dass mit der Türkei, wenn es um die Frage ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union geht, als nächstes Kapitel das Kapitel „Religionsfreiheit und Menschenrechte“ aufgemacht wird. Wir bleiben auch dabei, dass dieses Thema angesprochen werden muss.
Jetzt aber haben wir eine Aufgabe, die wir nur mit der Türkei lösen können. Deswegen müssen wir das auch so angehen. Und ich wünsche der Bundeskanzlerin viel Erfolg im Hinblick darauf, dass es bei dem vereinbarten Europa-Türkei-Paket bleibt.
In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf hinweisen, dass die Bundeskanzlerin nach wie vor auch mit Russland im Gespräch ist. Trotzdem muss es aber dabei bleiben, dass die Sanktionen, die gegen Russland ausgesprochen worden sind, nicht zurückgenommen werden, solange sich Russland nicht eines anderen Verhaltens befleißigt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frau Wagenknecht, ein Politiker, der aktiv im Dienst ist, hat sich um die augenblickliche Situation zu bemühen. Es bleibt dabei, dass es nicht darum geht – wie Sie sagen –, was Amerikaner und andere in den anderthalb Jahrzehnten zuvor gemacht haben. Darüber kann ich mit Ihnen gerne einmal reden. Sie dürfen aber mit diesem Hinweis nicht den Eindruck erwecken, dass Sie nicht ernst nehmen wollen, was Russland gerade jetzt im Augenblick in Syrien anstellt. Das ist nicht in Ordnung! Da nützt der Verweis gar nichts!
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat sie doch gesagt!)
Lesen Sie einmal die Berichte, die wir aus Aleppo bekommen. In denen steht, was dort passiert. Dort wird ganz bewusst die Wohninfrastruktur und die Gesundheitsinfrastruktur von russischen Bombern zerstört, damit den Menschen in und aus Syrien jede Rückkehrperspektive genommen wird. Das ist nicht in Ordnung! So werden Hunderttausende von neuen Flüchtlingen erzeugt. Dafür ist Russland verantwortlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat sie auch gerade gesagt!)
Wir stehen also vor wichtigen Entscheidungen, und ich finde, dass wir der Bundeskanzlerin Erfolg wünschen sollten. Wir sollten nicht die Frage stellen, was passiert, wenn sie keinen Erfolg hat. Vielmehr sollten wir ihr jetzt zunächst – und zwar nicht nur im Hinblick auf den 18. und 19. Februar – Erfolg wünschen. Wir sollten ihr wünschen, dass die Verhandlungen, die jetzt stattfinden, zum Erfolg für Europa werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es macht mir große Sorgen, dass wir in ein Europa hineinwachsen könnten, das am Ende dieses Jahres ganz anders aussieht als am Anfang des Jahres. Das wäre für niemanden gut und für niemanden ein Vorteil.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist völlig unstrittig, dass wir zur Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen einen Mix aus nationalen und europäischen Maßnahmen brauchen. Vielleicht brauchen wir noch darüber hinausgehende internationale Maßnahmen, ein Bereich, in dem der Bundesaußenminister bereits tätig ist. Beim Blick auf diesen Mix aus nationalen und europäischen Maßnahmen können wir feststellen, dass auch die nationalen Maßnahmen wirken. Ich finde, das muss man den Menschen in unserem Land noch viel deutlicher sagen. Die Einstufung der Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsländer hat dazu geführt, dass der große Flüchtlingsstrom aus diesem Gebiet, den es noch im letzten Jahr gab, jetzt gegen null tendiert. Deswegen war das ein Erfolg.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Na ja! Das ist zynisch!)
Sie müssen sich aber auch einmal anschauen, was es für eine Quälerei war, bis wir die Grünen im Bundesrat mit im Boot hatten und diesen erfolgreichen Mix aus nationalen und europäischen Maßnahmen beschließen konnten.
In dieser Woche werden wir hier im Deutschen Bundestag das Asylpaket II beraten und nächste Woche verabschieden. Da wäre es natürlich richtig gewesen – Frau Roth, gucken Sie mich nicht so traurig an –
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin nicht traurig!)
im Rahmen dieses Verfahrens im Bundestag auch ein Gesetz zu verabschieden, durch das Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten klassifiziert werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Widerlich! – Zuruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Frau Göring-Eckardt, Sie kritisieren die Arbeit der Bundesregierung. Da könnte ich natürlich darauf verweisen – das will ich mir aber verkneifen –, was für einen Granatenstreit Sie im Augenblick bei den Grünen über die Frage, was Herr Kretschmann darf und was nicht, haben.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nicht bei den Grünen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben keinen Streit!)
Wissen Sie – für den Fall, dass Sie mal Regierungsverantwortung haben –: Das schärft den Blick für das Notwendige.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das ist der einzige Hinweis, den ich geben will.
Ich hätte mir gewünscht, dass jetzt gesagt würde: Wir machen das, und dann reden wir im Bundesrat miteinander darüber, was für eine Zustimmung getan werden muss. – Sie werden sich schwertun, den Wählerinnen und Wählern im Land zu erklären, warum Sie etwas nicht machen, das auch Sie für notwendig halten, nur weil Sie quasi einen hohen Preis heraushandeln wollen. Das den Menschen zu erklären, wenn man Regierungsverantwortung tragen will, ist sehr schwer. Das ist auch nicht in Ordnung, um das mal klar und deutlich zu sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich glaube, dass es notwendig ist, dass wir mit Blick auf diese große Herausforderung gut und eng zusammenarbeiten – natürlich sowohl in der Koalition als auch dort, wo es noch notwendig ist: im Bundesrat.
Es ist durchaus richtig, dass wir bei der einen oder anderen Frage in der letzten Zeit nicht den Eindruck von Geschlossenheit vermittelt haben, wie es notwendig gewesen wäre. Ich will da gar keine Schuldzuweisungen aussprechen, sondern nur den Fakt feststellen. Wir sollten so nicht vorgehen; daran müssen wir uns orientieren. Wir müssen etwas vereinbaren und das, was vereinbart ist, konkret umsetzen und so den Menschen zeigen: Ihr könnt euch darauf verlassen, dass diese Regierungskoalition das Notwendige tut, um dem Problem an die Wurzel zu gehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der Kollege Oppermann hat mir gesagt, er müsse das Plenum verlassen. Trotzdem kann ich ihm folgende Passage nicht ersparen – die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin sitzt da; sie kann es ihm dann sagen –: Dazu gehört natürlich auch, dass wir in der Regierungskoalition nicht noch hier im Deutschen Bundestag dazu beitragen, Fehlinterpretationen von Aussagen zu verstärken.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Fehlinterpretationen? – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Unrecht!)
Das trägt nicht dazu bei, die Zusammenarbeit zu stärken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Das sollten Sie besser an Bayern richten!)
Wissen Sie: Wenn wir eine Koalition eingehen, gilt für mich der Grundsatz, den ich vom Kollegen Müntefering gelernt habe. Er hat gesagt: Wenn Sie eine Koalition eingehen, müssen Sie den Erfolg wollen.
(Christine Lambrecht [SPD]: Schöne Grüße nach Bayern! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wir tun das! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal dem Seehofer!)
Ich sage Ihnen: Mir würde hier am Pult in diesem Deutschen Bundestag auch manches einfallen zu manchem SPD-Politiker; das kann ich Ihnen nur sagen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und der LINKEN)
Aber wissen Sie: Über der parteipolitischen Profilierung steht gerade in dieser Zeit unsere Verantwortung für dieses Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir tragen Verantwortung für dieses Land!
(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagen Sie dem Horst mal! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso klatscht da die CSU?)
Aschermittwoch ist vorbei. Deswegen verkneife ich mir die eine oder andere Aussage. Mir geht es darum – und davon wird viel abhängen –: Es ist ein Schicksalsjahr für Europa. Es ist ein Schicksalsjahr für Deutschland, wie es noch nie ein Schicksalsjahr gab. Damit hat diese Koalition eine große Verantwortung. Daran muss man sich jeden Tag erinnern und sich das eine oder andere auch mal verkneifen,
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt! Vor allen Dingen in Bayern!)
um mehr Gemeinsamkeit zu zeigen, als es in der letzten Zeit der Fall war.
(Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Das war der Redebaustein von der SPD-Fraktionssitzung!)
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Hänsel das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6561841 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 154 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 18./19. Februar 2016 in Brüssel |