17.02.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 154 / Zusatzpunkt 1

Michelle MünteferingSPD - Aktuelle Stunde zu der Verschärfung der kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst gestern habe ich mit Koordinatoren der humanitären Hilfe in Syrien gesprochen. Sie hatten die ganze Nacht nicht geschlafen und waren sichtlich verzweifelt, weil vorgestern wieder Krankenhäuser und auch Schulen bombardiert worden sind, wobei auch Ärzte und Krankenschwestern getötet wurden. Nach ihrer Auskunft gibt es jetzt schon zu wenig Menschen im Land, die Hilfe leisten können. Viele von ihnen fürchten selbst um Leib und Leben und fliehen. Wie dramatisch die humanitäre Lage in Syrien ist, davon zeugt auch die Verzweiflung dieser beiden Helfer.

Ganz entscheidend in dieser Situation ist, dass sie nicht weiter eskaliert, dass die unterschiedlichen Akteure nun deeskalieren, anstatt sich auf eigene Faust militärisch noch intensiver am Konflikt zu beteiligen. Das gilt natürlich auch für die Türkei. Es reicht aber nicht, das von europäischer Seite einfach zu fordern. Es bedarf konstruktiver und lösungsorientierter Zusammenarbeit mit unserem türkischen Nachbarn, mit unserem türkischen Partner, anstatt widersprüchliche Signale zu senden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als Außenpolitikerin muss man ja immer bemüht sein, die Welt durch unterschiedliche Brillen, aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten. Aus Sicht der Türkei ist eben die Politik der EU zumindest auch das: widersprüchlich. Immer wieder wurde die Türkei von Politikerinnen und Politikern, auch aus Deutschland, dafür kritisiert, dass sie die über 900 Kilometer lange Grenze zu Syrien zu durchlässig für Terroristen gemacht hat. Zu selten wurde erwähnt, dass diese offenen Grenzen der Türkei auch dazu gedient haben, über 2 Millionen Menschen ins Land zu lassen, mehr als die gesamte Europäische Union aufgenommen hat. Die EU hat nun 3 Milliarden Euro an Hilfe versprochen. Davon ist aber noch kein Cent geflossen. Unterdessen sind in der Türkei seit 2011  150 000 Kinder von syrischen Flüchtlingen geboren worden. Wir sprechen – so ist mein Eindruck – immer von diesen Menschen, als sei es eine Masse. Aber das ist keine Masse. Das sind Menschen.

Die Türkei hat nun die Grenzen geschlossen. Wir sehen, wie sich eine neue, zusätzliche humanitäre Kata­strophe auf syrischer Seite abspielt. Nach Aleppo geraten noch einmal eine halbe Million Menschen in Not. Die Türkei hilft auch hier wieder. Es wurden provisorische Unterkünfte errichtet. Auch auf türkischer Seite werden die Anstrengungen verstärkt, Aufenthaltsräume zu schaffen. Das ist nichts Neues; das geschieht schon länger. Aber jetzt kommt noch einmal eine neue Dimension hinzu. Es ist gut, dass das Auswärtige Amt reagiert und die Hilfe des THW angeboten hat.

Sehr verehrte Damen und Herren, die Türkei hat ein essenzielles sicherheitspolitisches Interesse in Syrien. Dafür soll der 90 Kilometer lange Korridor dienen, den Ankara nun bombardiert, damit die YPG, die syrischen Kurden, ihn nicht einnehmen. Dieses Interesse der Türkei wird uns immer wieder vorgetragen, vielleicht auch vor dem Hintergrund der Frage: Was passiert, wenn Syrien und der Irak zerfallen und die Grenzen des Sykes-Picot-Abkommens nicht mehr gelten? Sind dann auch die türkischen Grenzen wieder verhandelbar?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rechtfertigt diese Bombardements keineswegs. Um es klar zu sagen: Ich finde sie nicht richtig; denn es wird weder militärisch erfolgreich sein, der YPG den Weg aus der Luft abzuschneiden, noch wird es zu einer Deeskalation beitragen, die wir so dringend brauchen. Vielmehr kann es auch den Konflikt mit Russland befeuern. Aber derzeit werden die Verhältnisse am Boden komplizierter. Die moderate Opposition ist geschwächt und zerfasert, anstatt sich geschlossen gegen Assad und den IS zur Wehr zu setzen. Kein Akteur sollte in so einer Lage eigene Interessen in den Vordergrund stellen, sondern alle sollten an einem gemeinsamen politischen Prozess konstruktiv mitarbeiten. Entgrenzung der Mittel dürfen wir dabei nicht hinnehmen. Deswegen sind Frank-Walter Steinmeier und die Bundesregierung auf dem richtigen Weg. Das, was die Menschen in den Städten und Dörfern jetzt brauchen, sind Hilfe, Medizin, Nahrung und Schutz.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen Punkt aus meinem gestrigen Gespräch mit den Helfern in das Hohe Haus tragen. Die junge Generation in Syrien radikalisiert sich mehr und mehr, weil sie Hilflosigkeit spürt und immer öfter vor der Alternative steht: Assad oder „Islamischer Staat“. Ich frage mich: Was geschieht mit dieser Generation, die zwischen den Fronten zerrieben wird, die keine Sicherheit, keine Perspektive, keine Arbeit hat? Was passiert, wenn die Situation noch weitere Jahre so bleibt? Wir müssen helfen, diese Entwicklung umzukehren und Frieden zu schaffen. Und dafür müssen als Erstes die Waffen schweigen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Claudia Roth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6562595
Wahlperiode 18
Sitzung 154
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zu der Verschärfung der kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien
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