16.03.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 160 / Tagesordnungspunkt 1

Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wieder einmal, so könnte man fragen, ein neuer Gipfel, und was wird das Ergebnis dieses Gipfels sein? Aber wenn wir uns die letzten Gipfel anschauen, dann sehen wir, dass wir immer vorangekommen sind. Wir haben in Europa schon immer erlebt, dass es manchmal etwas langsam und schwierig gegangen ist, dass wir aber dann doch zu Ergebnissen gekommen sind. Ja, auch mir geht es bei der Frage der europäischen Flüchtlingspolitik zu langsam. Deshalb ist es aber doch richtig, dass wir diejenige unterstützen und derjenigen Erfolg wünschen, der es auch zu langsam geht, nämlich unserer Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

– Da darf der Beifall bei unserem Koalitionspartner ruhig etwas größer sein;

(Zuruf des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])

denn ich gehe davon aus, dass auch Sie den Erfolg wollen.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ja, das Gesicht, das Europa im Augenblick in Griechenland zeigt, ist nicht das Gesicht von Europa, das ich mir in der ganzen Welt vorstelle.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das, was wir in Griechenland erleben, ist aber das Ergebnis davon, dass Europa nicht schnell genug gehandelt hat, und das ist das Ergebnis ausschließlich nationaler Maßnahmen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt!)

Das zeigt, dass wir eine wirkliche Lösung nur hinbekommen, wenn wir europäisch handeln.

Jetzt, Herr Kollege Hofreiter: Wir müssen schon die Wirklichkeit richtig darstellen. Ein Teil des Protestpotenzials, das sich auch – nicht nur, aber auch – in Stimmen für die AfD zeigt, hängt auch damit zusammen, dass wir die Dinge, wie sie wirklich sind, manchmal nicht so richtig bezeichnen. Wenn Sie jetzt versuchen, die Situation in Griechenland mit der damals in Ungarn zu vergleichen, dann ist das eben nicht fair.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum? – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doch!)

– Nein. In Ungarn gab es eben keine Möglichkeiten für die Flüchtlinge, in entsprechende Einrichtungen zu gehen.

Die Ungarn haben die Flüchtlinge auf die Straße geschickt, damit sie woanders hingehen; aber in Griechenland gibt es Plätze, wohin die Flüchtlinge gehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Insofern besteht ein Unterschied, und das sollten wir auch sagen.

Richtig ist aber auch – das sieht man an diesem Beispiel –, dass es mit europäischen Werten nichts zu tun hat, wenn wir denjenigen im Stich lassen, der jetzt die ganze Last tragen soll, nach dem Motto: Es interessiert uns nicht, was die Griechen zu tun haben. – Das geht auf gar keinen Fall. Es bringt Europa an den Rand des Zerfalls, wenn so gedacht wird. Wir wären dann nicht mehr füreinander da, und wir würden uns dann nicht mehr in schwierigen Situationen helfen. Das wäre nicht das Europa, wie ich es mir vorstelle. Dafür kämpft die Bundeskanzlerin auch auf dem bevorstehenden Gipfel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das haben Sie vor ein paar Jahren bei Lampedusa doch genauso gemacht!)

Ich wünsche ihr dabei viel Erfolg.

Es wird – auch dies ist klar – ohne den Beitrag der Türkei nicht gehen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der Türkei darüber sprechen, welchen Beitrag sie leisten kann, und dass wir der Türkei auch klar sagen, wie es die Bundeskanzlerin gesagt hat: Das, was ihr macht, ist nicht nur etwas, was ihr für uns in Europa tut, sondern es ist auch etwas, was die Türkei für sich selber tut. – Sie hat also ein Eigeninteresse. Trotzdem ist klar, dass wir mit der Türkei auch darüber reden müssen, welche Wünsche und Vorstellungen sie hat.

Ich bin froh darüber, Herr Kollege Hofreiter, dass Sie gesagt haben: Die finanziellen Leistungen an die Türkei sind richtig, und sie sind auch notwendig, um dort mitzuhelfen, zu stabilisieren und damit Fluchtursachen zu reduzieren. Jetzt hat die Türkei noch eine Reihe von anderen Wünschen. Man muss mit der Türkei darüber reden, was gehen kann und was nicht gehen kann.

Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht – ich wäre der Letzte, der das bestreiten würde; schließlich habe ich es bereits mehrfach gesagt –: Wir müssen mit der Türkei reden – ich habe nie etwas anderes gesagt –, obwohl sich mir dabei manche Fragen im Hinblick auf meinen Einsatz für Religionsfreiheit und verfolgte Christen stellen. Wir, die Unionsfraktion, haben der Bundeskanzlerin immer gesagt: Wir wollen, dass das nächste Kapitel, das bei den Verhandlungen mit der Türkei eröffnet wird, Menschenrechte, Rechtsstaat und Religionsfreiheit und kein anderes Thema betrifft. Wenn das jetzt geschieht, dann werde ich mir die eine oder andere Diskussion in der Türkei und mit der Türkei notwendigerweise leisten. Auch das ist klar. Aber das heißt doch nicht, dass wir jetzt überhaupt nicht mit der Türkei darüber sprechen, wie sie uns helfen kann, bei diesem wichtigen Thema voranzukommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir müssen lernen, dass wir mit Ländern, bei denen wir glauben, dass sich im Rechtsstaatsdialog mit ihnen einiges verändern muss, reden, dass wir klare Kante zeigen, wenn es um unsere Positionen geht, dass wir sie aber auch dort mitnehmen, wo sie Beiträge im gemeinsamen Interesse leisten müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass wir nicht von uns aus nach dem Motto vorgehen: Jetzt steht der schnelle Beitritt der Türkei vor der Tür. Das entspricht nicht der Wahrheit. Es trüge zur Verunsicherung in der Bevölkerung bei und auch dazu, dass der eine oder andere sagt: Dann suche ich mir ein Ventil in einer Partei wie der AfD. Deswegen müssen wir alle miteinander überlegen – auch in diesem Hohen Haus –, welchen Beitrag wir durch unsere Diskussionsbeiträge dazu leisten, dass Menschen verunsichert werden und sich dann einen anderen Weg suchen, statt bei den Parteien zu bleiben, die für das Wohl dieses Landes mehr getan haben, als Parteien wie die AfD jemals tun werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dazu trägt auch bei, dass wir, die wir in einer Koalition sind, das tun, was wir vereinbart haben, und nicht nur ständig darüber reden, was wir tun wollen. Deswegen ist es besser, zunächst einmal miteinander zu sprechen, bevor man ein neues Programm heraushustet.

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Idee!)

Ich kann nur sagen: Peter Struck hat einmal zu mir gesagt: Wenn du etwas heraushustest, ohne es vorher mit mir besprochen zu haben, dann kannst du das gleich in meine Pfeife stopfen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Damit wäre alles besprochen!)

Deswegen kann ich nur raten, dass man sich als Koalition nicht über das Wochenende in Wochenendmagazinen mit neuen Vorschlägen überrascht, sondern vielleicht vorher miteinander spricht. Mit mir hat man auf jeden Fall nicht gesprochen – um das einmal klar zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Meinen Sie die CSU?)

Lieber Kollege Oppermann, das gilt natürlich wechselseitig auch für die andere Seite. Das sage ich in beide Richtungen.

(Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Frau Göring-Eckardt, wir können das nachher auch bilateral klären. Jetzt lassen Sie erst einmal die Baden-Württemberger ihre Gespräche führen, und dann reden wir miteinander.

(Vereinzelt Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich möchte darauf hinweisen, dass das deswegen schwierig ist, weil wir einen Punkt – auch in den Reden, die heute gehalten worden sind – völlig vernachlässigt bzw. gar nicht angesprochen haben. Es geht doch jetzt nicht in erster Linie darum, neue Pakete zu schnüren, als ob wir bisher gar nichts getan hätten. Vielmehr hat diese Koalition im sozialen Bereich doch sehr viel auf den Weg gebracht. Bei dem einen waren wir nicht so fröhlich dabei, bei dem anderen aber schon.

Wir haben für 9 Millionen Mütter die Mütterrente geschaffen. Wir haben die Rente mit 63 geschaffen. Außerdem haben wir den Mindestlohn eingeführt. Insofern kann man doch nicht so tun, als ob man jetzt erst damit anfangen müsste, in diesem Bereich etwas zu tun. Machen wir uns doch nicht selbst kleiner, als wir wirklich sind, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt kommt mein Thema: Wir diskutieren immer wieder darüber, wie es mit der Rente weitergeht und ob das Rentenniveau in Ordnung ist. Dazu muss man die ganze Wahrheit sagen. Wir sind aktuell nicht bei einem Rentenniveau von 42 Prozent angekommen, wie immer wieder behauptet wird. Wir werden bei diesem Niveau auch niemals ankommen, wenn wir endlich einmal verstehen, dass – –

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass wir Zuwanderung brauchen!)

– Das ist ganz falsch. Darüber reden wir gleich aber auch noch.

Wir werden auf diesem Niveau gar nicht erst ankommen, wenn wir weiterhin wirtschaftlich stark bleiben. Wirtschaftliche Stärke und Wachstum werden das Rentenniveau nicht nach unten, sondern nach oben bringen.

(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

Deswegen sage ich auch, dass wir in erster Linie einen Pakt für Wachstum und Innovation in diesem Land brauchen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gestern ist die CeBIT eröffnet worden. Wenn man sieht, was dort passiert – darüber wird heute gar nicht gesprochen –, kann ich nur sagen: Es ist richtig, dass wir in Infrastruktur investieren.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sind Sie in der Regierungskoalition oder Oppositionsführer?)

– Ja, ja. – Ich will einmal Folgendes sagen: Wenn wir es nicht zügig angehen, dieses Land von der Struktur her fit zu machen für die neuen Herausforderungen, dann werden wir kein einziges soziales Problem mehr lösen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen sind Innovation und Wachstum die entscheidenden Punkte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen die Menschen auch damit einmal konfrontieren und ihnen sagen, dass wir das wollen.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal Herrn Schäuble! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir besorgen das, was ihr verteilen wollt!)

Es ist mit Blick auf die Wahlergebnisse, die uns am vergangenen Sonntag präsentiert worden sind, auch richtig, dass die Flüchtlingsfrage wie ein Katalysator gewirkt hat. Sie war nicht das Einzige, was Menschen dazu bewogen hat, nicht mehr uns oder die Parteien zu wählen, die sie bisher gewählt haben, aber sie war ein Katalysator, durch den vieles aufgebrochen ist. Dabei geht es jetzt gar nicht um die Benachteiligten.

Da sind vielmehr Menschen auf einmal sauer darüber – sie haben das auch formuliert –, dass seit längerer Zeit die Themen „Innere Sicherheit“ oder „Einbruchskriminalität“ überhaupt nicht richtig behandelt werden. Dazu kann ich nur sagen: Wir in der Koalition hätten beim passiven Einbruchschutz auch mehr tun können; vielleicht können wir das noch nachholen.

(Zustimmung des Abg. Dr. Karl A. Lamers [CDU/CSU])

Da glauben Menschen, dass die Bekämpfung von Kriminalität in bestimmten Regionen gar nicht mehr stattfindet. Es ist doch dramatisch, wenn wir in Zeitungen am Wochenende lesen müssen, dass es in Dortmund, in Berlin und überall Viertel gibt, wo die Polizei schon längst die Waffen gestreckt hat und nichts mehr passiert.

(Widerspruch bei der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie sich jemals in Berlin bewegt?)

Da kann ich nur sagen: Es wäre wirklich kurzsichtig und würde kein einziges Problem lösen, wenn wir glauben: Ausschließlich das Flüchtlingsthema hat die Menschen zur AfD gebracht. – Das belegt die Wahlanalyse hundertprozentig nicht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man Falsches wiederholt, wird es auch nicht besser!)

Wir sprechen ständig davon, Herr Hofreiter: Es muss mehr für Bildung und, und, und getan werden.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

So stimmt das aber nicht. Wenn ich in mein Heimatland schaue, dann muss ich sagen:

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Theresia Bauer ist wieder beste Wissenschaftsministerin geworden!)

Es ist nicht das Thema, mehr für Bildung zu tun, sondern es geht darum, das Falsche zu vermeiden und das Richtige zu tun. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber darüber diskutieren wir nicht hier im Deutschen Bundestag, sondern das muss in den Ländern stattfinden.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon mitgekriegt, dass Theresia Bauer zum dritten Mal zur besten Wissenschaftsministerin von allen 16 gewählt worden ist? Zum dritten Mal! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Das sagt überhaupt nichts aus!)

Ich wehre mich ein bisschen dagegen, dass jedes Problem, das in den Ländern nicht richtig behandelt wird, hier bei uns im Bund abgeladen werden soll. So funktioniert Föderalismus auf gar keinen Fall. Wir werden uns daran auf jeden Fall nicht beteiligen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, jetzt haben wir auf dem Gipfel eine große Aufgabe vor uns. Ich glaube, dass mehr europäische Länder erkannt haben, dass das, was sich im Augenblick in Griechenland abspielt, so nicht gehen kann, so nicht funktionieren kann. Deswegen wünsche ich der Bundeskanzlerin, dass sie mit ihrer Mission auf dem Gipfel Erfolg hat. Ich will, dass Europa ein menschliches Gesicht zeigt und nicht das zeigt, was sich jetzt gerade in Griechenland abspielt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Wort erhält nun die Kollegin Eva Högl für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6675120
Wahlperiode 18
Sitzung 160
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel
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