16.03.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 160 / Tagesordnungspunkt 1

Norbert Lammert - Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Traditionell soll sich ja der Frühjahrsgipfel mit Wirtschaftsthemen beschäftigen und gemeinsame Strategien zur Wirtschaftspolitik entwickeln. Angesichts der aktuellen Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik, aber auch zuletzt bei den Verhandlungen mit Großbritannien sind die normalen Themen aber immer wieder in den Hintergrund gedrängt worden. Dabei gilt es aus meiner Sicht nicht nur bei der Flüchtlingspolitik und nicht nur bei den großen Aufregern Brexit oder Grexit in Brüssel belastbare Politik zu machen; denn eine ständige Weiterentwicklung der Lösungsmechanismen und der Strategien und eine ständige Vertiefung der Europäischen Union – das sage ich ganz bewusst und schiele dabei natürlich in Richtung London – sind die Grundlage dafür, dass wir in Europa für alle Menschen, auch für Neuankömmlinge, leistungsfähig bleiben können.

Das Europäische Semester ist Teil der Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Ganz klar: Eine echte Veränderung der Währungsunion hin zu einer Vertiefung der Wirtschaftsunion ist das noch nicht, aber es ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

Nun stellt sich jedes Jahr, wenn wir die nationalen Reformpläne und die länderspezifischen Empfehlungen diskutieren, die Frage: Wie ernst nehmen dies eigentlich die Mitgliedstaaten? Wie ernst nimmt es Deutschland mit den Verpflichtungen, mit den länderspezifischen Empfehlungen? Die Kommission sagt, die wirtschaftliche Situation in Deutschland sei gut, dennoch würden seit Jahren nötige öffentliche und private Investitionen nicht vollzogen, auch nicht die in den letzten länderspezifischen Empfehlungen von 2015 empfohlenen Investitionen. Die Kommission sagt, dass in der Vergangenheit in Deutschland Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Wohnen vernachlässigt wurden. Das führt zum Fazit, dass wir sozialen Wohnungsbau brauchen, dass wir mehr Investitionen in die soziale Stadtentwicklung brauchen und Anreize für den Neubau bezahlbaren Wohnraums für die Normalverdiener schaffen müssen.

Wir in der SPD haben das verstanden, und wir haben mit unserem Drängen die Bundesregierung dahin bewegt, mit dem Umsteuern zu beginnen. Das wird für uns in der SPD das Topthema der kommenden Monate und Jahre bleiben. Wir brauchen eine Investition in die Zukunft aller Menschen in Deutschland, sowohl in die Zukunft derjenigen, die schon lange oder schon immer hier leben, als auch in die Zukunft der Neuankömmlinge. Wir brauchen ein Solidarprojekt für Deutschland.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa steht bei diesem Gipfel und bezüglich der aktuellen Flüchtlingspolitik an einer Wegscheide. Die Erwartungen an die politisch Handelnden sind derzeit enorm hoch. Von allen Partnern in Europa, natürlich auch von uns, werden Kompromissbereitschaft und Flexibilität verlangt. Dabei müssen wir aber immer auf der Grundlage der gemeinsamen Werte dieser Europäischen Union handeln. Ich begrüße ausdrücklich die Lösungsvorschläge der Europäischen Kommission und den umfassenden Ansatz, mit dem der Rat in den nächsten zwei Tagen der Aufgabe der Bewältigung der aktuellen Migrationsbewegungen begegnen will. Man will beraten und wird hoffentlich zu wichtigen und richtigen Entscheidungen kommen; denn nur gemeinsames europäisches Handeln kann uns letztendlich zu dauerhaften und zufriedenstellenden Lösungen führen. Eine gemeinsame europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage ist aber sicherlich nicht in den nächsten zwei Tagen zu erzielen. Sie braucht Zeit. Aber es braucht in den nächsten Tagen zumindest gemeinsame Signale.

Es mag sein, dass wir als einer der 28 Partner zusammen mit einigen wenigen Willigen besondere Anstrengungen unternehmen und einseitig Vorleistungen erbringen müssen. Aber ich bleibe dabei: Wir sind 28 in der Europäischen Union, und die 28 Mitgliedstaaten müssen die Bewältigung der Flüchtlingssituation als gemeinsame Aufgabe ansehen und auch zu gemeinsamen Lösungen gelangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn aber der Kreis der Willigen in der Realität der nächsten Wochen und Monate tatsächlich beweisen kann, dass die Kombination aus Verhinderung von Grenzübertritt, Ausschaltung der Schlepper, Öffnung von legalen Zugangswegen – ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt –, Zugang zu den Asylverfahren und menschenwürdiger Versorgung in allen Aufnahmeländern zu einem signifikanten Nachlassen des Migrationsdrucks führt, dann entsteht hoffentlich auch bei den jetzt noch Unwilligen die Bereitschaft, sich doch noch auf eine gemeinsame Lösung einzulassen. Appelle alleine reichen nicht. Jetzt muss gehandelt werden.

Die Sicherung der Außengrenzen wird immer als Monstranz vorangetragen. In den letzten Wochen glaubte man oft, alleine mit der Sicherung der Außengrenzen zu einer signifikanten Verringerung der Zahlen zu kommen. Die Sicherung der Außengrenzen ist richtig und wichtig, sofern damit gemeint ist, an den Außengrenzen zu erfassen, wer wo und unter welchen Umständen in die EU einreist, wenn damit also ein kontrollierter Zugang für diejenigen gemeint ist, die zu uns kommen. Wer mit dem Schließen der Grenzen aber lediglich das Ziel verfolgt, Schutzbedürftigen das Stellen eines Asylantrags zu erschweren, der verlagert die Missachtung unserer gemeinsamen Werte an die Grenzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen jetzt das Signal senden – ich hoffe, dass das von diesem Gipfel ausgehen wird –, dass wir alle in der gemeinsamen Verantwortung stehen, insbesondere Griechenland angesichts der dort aktuell entstandenen Lage zu helfen. Es gilt nun, die Mittel zur Verfügung zu stellen, aber auch personelle und technische Hilfe zu leisten. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass wir mit der Türkei einen Partner gewinnen, der mit uns gemeinsam ein Problem löst, das eben nicht seins ist.

Es ist richtig, dass wir in der Krise mit der Türkei zusammenarbeiten. Hier ist der Dialog entscheidend. Ich setze darauf, dass es über diesen Dialog gelingt, zu mehr Rechtsstaatlichkeit und zur Einhaltung der Menschenrechte zu kommen. Ich will das im Sinne von Rechtsstaatlichkeit auch als Chance begreifen, einen Beitrittsprozess zur EU zu ermöglichen.

Herr Kollege.

Die Türkei hat, nebenbei gesagt, in den letzten Jahren bei der Aufnahme von mehr als 3 Millionen Flüchtlingen Erstaunliches geleistet. Jetzt sollten wir die Bedingungen für gemeinsame Lösungen schaffen.

Liebe Frau Bundeskanzlerin – sie ist gerade nicht an ihrem Platz –, –

Sie müssen zum Schluss kommen.

– ich möchte Ihnen viel Glück, viel Kraft und Erfolg in Brüssel wünschen. Ich wünsche mir, dass Ihr viel zitierter Satz der letzten Wochen und Monate auch für die Verhandlungen in Brüssel gilt: Wir schaffen das, weil wir es machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Michael Stübgen erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6675185
Wahlperiode 18
Sitzung 160
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta