Michael StübgenCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu: Ein bisschen kam es mir schon wie in Tausendundeine Nacht vor, als die türkische Regierung der Europäischen Union wenige Stunden vor dem Europäischen Rat in der letzten Woche einen sehr weitgehenden Vorschlag dazu gemacht hat, was sie bereit wäre zur Lösung oder teilweisen Lösung der Migrationsproblematik über ihr Land in die Europäische Union zu tun. Es gibt in den deutschen Medien wilde Spekulationen darüber, wie es denn zu diesem Vorschlag gekommen ist. Daran will ich mich nicht beteiligen.
Ich will aber eines feststellen: Wir haben es mit einem ernsthaften und sehr weitreichenden Vorschlag der türkischen Regierung an die Europäische Union zu tun. Nach meiner eingehenden Analyse dieses Vorschlages und der Vorbereitungspapiere, die unter Leitung von Ratspräsident Donald Tusk entstanden sind, muss ich Ihnen sagen, dass es meine Überzeugung ist, dass dieser Vorschlag das Potenzial hat, dass wir als Europäische Union es gemeinsam mit der Türkei schaffen, das Geschäftsmodell Balkanroute zu beenden. Dieses Geschäftsmodell führt seit Monaten dazu, dass skrupellose Schlepperbanden auf dem Rücken von geschundenen Menschen, die fliehen, Milliardeneinnahmen machen. Diese Banden haben vorsätzlich in Kauf genommen, dass bisher mehr als 1 000 Menschen auf der Balkanroute gestorben sind. Wenn wir es schaffen sollten, wenn die Chance besteht, dieses Geschäftsmodell zu beenden, ist es alle Anstrengungen wert, zu versuchen, bei den Verhandlungen mit der Türkei morgen und übermorgen zu einem Erfolg zu kommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Für ein erfolgreiches Agreement mit der Türkei gibt es nach meiner Einschätzung drei grundsätzliche Fragen, die beantwortet werden müssen.
Die erste ist: Können wir davon ausgehen, können wir glauben und voraussetzen, dass die Türkei dieses Mal wirklich will, was sie ankündigt? Ich verstehe jeden, der in dieser Frage Zweifel hat angesichts der Politik, auch der Geopolitik der Türkei in den letzten zehn Jahren, die vorsätzlich nicht darauf ausgerichtet war, sich der Europäischen Union anzunähern, sondern eher ein ganz anderes Ziel verfolgt hat und ganz andere geopolitische Schwerpunkte hatte.
Ich kann auch angesichts der Tatsache, wie die türkische Regierung in den vergangenen 15 Monaten mit der Flüchtlingswelle umgegangen ist, Zweifel verstehen. Sie hat diesen Prozess in ihrem Land geduldet, ohne ihn zu reduzieren oder gar zu stoppen. Denn dies war in ihrem eigenen Interesse: Wenn Flüchtlinge aus der Türkei in die EU gehen, sind weniger in der Türkei. Genauso erkennbar ist allerdings in den letzten Monaten, dass der Türkei dieser Prozess mehr und mehr aus dem Ruder gelaufen ist. Die Entwicklung, dass sich die Türkei zu einem internationalen Durchgangslager für Migranten bis hin aus Indien und Bangladesch in die Europäische Union entwickelt hat inklusive der logistischen mafiösen Strukturen ringsherum, ist mit Händen zu greifen.
Ich gehe davon aus, dass diese Frage mit Ja beantwortet werden kann. Ja, die türkische Regierung hat verstanden: Sie muss an der jetzigen Situation etwas ändern. – Wir haben eine ausreichende Schnittmenge, auf Augenhöhe zwischen EU und Türkei zu verhandeln, und die Chance, zu einem richtigen Ergebnis zu kommen.
Die zweite wesentliche Frage ist: Haben wir denn eine Garantie, dass ein mögliches Agreement mit der Türkei auch funktioniert, dass es erfolgreich umgesetzt werden kann? Diese Frage kann man einfach beantworten: Nein, die haben wir nicht, und die werden wir auch nicht haben, wenn dieses Agreement morgen oder übermorgen verabschiedet werden kann. Die nächste Frage, die sich anschließt, lautet: Ist denn die Wahrscheinlichkeit des Erfolges dieser Vereinbarung groß genug? Da ist meine Überzeugung, gerade aufgrund meiner Ausführungen zur ersten Frage, dass die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs groß genug ist.
Ich komme zur dritten und entscheidenden Frage – wir haben sie uns im Übrigen bei allen Rettungspaketen, bei allen Rettungsprogrammen in den letzten fünf Jahren im Rahmen der Euro-Krise immer wieder gestellt –: Haben wir denn für den Prozess der Umsetzung solch einer Vereinbarung – in diesem Fall mit der Türkei – eine ausreichende Kontrolle, und haben wir, wenn es das Agreement gibt, wenn es also verabschiedet ist, noch genügend Möglichkeiten und Kraft, Fehlentwicklungen, die zufällig, durch Fehleinschätzungen, aber möglicherweise auch vorsätzlich erzeugt werden, zu korrigieren? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich wesentlich schwieriger.
Ich will nur zwei Punkte kurz ansprechen:
Die Türkei wünscht sich, dass der Prozess mit der Europäischen Union mit dem Ziel der Visafreiheit massiv beschleunigt wird. Es gab schon eine Roadmap, die das für das Jahr 2017/2018 vorsah. Im Herbst des letzten Jahres wurde beschlossen, dass dies bis Oktober der Fall sein soll. Jetzt sagt die Türkei: Wir schaffen das alles bis Ende Juni dieses Jahres. – Dass bisher wenig passiert ist, hat nichts mit der EU, sondern hat damit zu tun, dass die Türkei selber die Voraussetzungen noch nicht ausreichend umgesetzt hat. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich habe Zweifel, dass die technischen und politischen Voraussetzungen bis Ende Juni dieses Jahres von der Türkei umgesetzt werden können. Aber ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, aufgrund dieser Zweifel der Türkei gegenüber zu erklären: Ich glaube nicht, dass ihr das schafft; also reden wir nicht darüber.
(Christine Lambrecht [SPD]: Richtig, genau!)
Wichtig ist, dass die notwendigen Voraussetzungen – sie sind bis ins letzte Detail definiert – umgesetzt werden, ohne politische Rabatte. Wichtig ist: Wir haben in diesem Prozess als Deutscher Bundestag die vollständige Kontrolle über die Vorgänge. Ich glaube, wenn das erfolgreich umgesetzt wird – von mir aus am besten Ende Juni –, dann werden wir mit biometrischen türkischen Pässen ohne Visa wahrscheinlich eine bessere Sicherheitsstruktur haben als mit den bisherigen nicht fälschungssicheren türkischen Pässen mit Visa. Wir können hier also zu einem Vorteil kommen.
Der letzte Punkt: die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen. Es ist ganz eindeutig, dass die Türkei in den letzten zehn Jahren nicht wirklich Interesse daran hatte, sich anzunähern. Das Gegenteil war der Fall. Aber auch hier können wir feststellen, dass die Türkei mit ihren ehemaligen geostrategischen und geopolitischen Zielen gescheitert ist; das ist sogar ein Desaster. Wenn es ein Umdenken bei der türkischen Regierung in die Richtung gibt, sich der Europäischen Union anzunähern und mehr Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land umzusetzen, dann wird dies ein Vorteil für 80 Millionen Türken sein, und es wird auch ein Sicherheitsvorteil für die Europäische Union als Ganzes sein.
Ich glaube, dass die notwendigen Voraussetzungen dafür, solch ein Agreement mit der Türkei zu erzielen, erfüllt sind. Wir als Deutscher Bundestag werden sehr genau darauf achten, dass die Voraussetzungen erfüllt werden. In diesem Zusammenhang wünsche ich dem Europäischen Rat einen erfolgreichen Abschluss und Bundeskanzlerin Merkel Erfolg bei den sehr, sehr komplexen und sehr, sehr schwierigen Verhandlungen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank, Herr Kollege Stübgen. – Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die sich so angeregt unterhalten, bitten, Platz zu nehmen? Die Debatte ist noch nicht zu Ende, und es gehört sich, den beiden Kollegen, die noch reden, zuzuhören.
Nächste Rednerin in der Debatte: Luise Amtsberg für Bündnis 90/Die Grünen. – Und ich meine das mit dem Hinsetzen ernst.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt hurra!)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6675189 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 160 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016 in Brüssel |