17.03.2016 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 161 / Tagesordnungspunkt 10

Dirk WieseSPD - Sexualstrafrecht

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn ein paar persönliche Worte: Ich habe nicht das geringste Verständnis für männliche Mitbürger, egal welcher Abstammung, Sprache, Heimat oder Herkunft, egal welchen Glaubens, politischen oder religiösen Bekenntnisses sie auch sind, die meinen, dass sie Frauen als Objekte behandeln können, die die fundamentalen Werte unseres Grundgesetzes missachten, die jeglichen Respekt im Umgang miteinander vermissen lassen, die die Werte mit Füßen treten, für die viele unserer Vorgänger, vor allem Vorgängerinnen, über Jahrzehnte hier im Parlament gestritten und gekämpft haben,

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

indem diese Männer das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung missachten, ja Frauen erniedrigen. Für solche Männer – das sage ich hier ganz offen – schäme ich mich.

Leider gibt es davon in unserer Gesellschaft zu viele; denn jedes Jahr werden rund 8 000 Anzeigen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung aufgenommen. Das beweist, dass Gewalt, vor allem sexuelle Gewalt gegen Frauen, alles andere als eine Randerscheinung ist. 40 Prozent aller Frauen erleben körperliche oder sexuelle Übergriffe. 60 Prozent der Frauen haben mindestens eine Form der sexuellen Belästigung erfahren. – Ich meine, diese Zahlen muss man sich einmal vorstellen. Wie gesagt: 8 000 Anzeigen, wobei das nur die zur Anzeige gebrachten Taten sind! Dazu kommen eine Vielzahl von Übergriffen im Nahbereich, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, dumme Sprüche oder Gesten, die alle zusammen deutlich machen, dass Sexismus in unserer Gesellschaft leider immer noch ein weitverbreitetes Phänomen ist. Dabei waren es immer wieder mutige Frauen, die für ihre Rechte aufgestanden sind, die mutig und entschlossen die rechtliche Situation von Frauen verbessern und Frauen besser schützen wollten. Es waren Frauen wie die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, die 1948 gegen den Widerstand der bürgerlichen Parteien dafür gesorgt hat, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ überhaupt in das Grundgesetz kommt.

(Beifall bei der SPD)

Doch es dauerte leider noch Jahrzehnte, bis dieser Verfassungsgrundsatz in der einfachen Gesetzgebung Realität wurde und den Patriarchalismus Stück für Stück aus den Gesetzbüchern verdrängen konnte. Es waren engagierte Kolleginnen im Deutschen Bundestag, die zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition für das Rentenreformgesetz gestritten haben. Nichterwerbstätige Frauen hatten dadurch endlich die Möglichkeit, der Rentenversicherung freiwillig beizutreten und sich eine eigenständige soziale Sicherung aufzubauen. Ich erinnere an das Jahr 1973 mit dem Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts, welches die Anerkennung der sexuellen Freiheit der Frau beinhaltete, oder an das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts, welches ein Jahr darauf den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen für straffrei erklärte.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal was zum Thema sagen?)

Oder werfen wir einen Blick in das Jahr 1976: Eine verheiratete Frau musste von nun an ihren Arbeitsvertrag nicht mehr von ihrem Mann genehmigen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das eine Geschichtsstunde, oder was?)

Wenn wir heute zurückschauen, dann ist es doch unfassbar, für welche Selbstverständlichkeiten Frauen damals harte Schlachten im Parlament schlagen mussten. Genauso unfassbar ist es aber – das will ich hier einmal betonen –, dass sich heute plötzlich eine Partei namens Alternative für Deutschland anschickt, Forderungen zu erheben nach einer Gesetzesverschärfung zum Schwangerschaftsabbruch,

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn das jetzt?)

nach der Streichung der finanziellen Unterstützung für Alleinerziehende, nach dem Verbot von Genderforschung, und obendrein noch fordert, die sogenannten traditionellen Geschlechterrollen zu bewahren bzw. wieder einzuführen.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit § 177 zu tun?)

Wenn das die Alternative für Deutschland sein soll, dann kommen mir die Worte von Heinrich Heine in den Sinn: „Denk ich an Deutschland in der Nacht …“ Nein, diese Rückwärtsgewandtheit, dieser nationalistische Mief, eine Partei, die solch eine Vorstellung von Artikel 3 des Grundgesetzes hat, hat in diesem Hohen Haus, in dem Frauen für diese Errungenschaften gekämpft haben, nichts, aber auch rein gar nichts zu suchen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Da sind wir alle gemeinsam gefordert, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Werfen wir einen Blick in das Jahr 1999, in ein rot-grünes Regierungsjahr. Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen legte die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung, die Prävention, die bessere Vernetzung von Hilfsangeboten für die Opfer, rechtliche Maßnahmen wie dem Gewaltschutzgesetz und eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit vor. Oder nehmen wir das Jahr 2001 mit dem Erlass des Gewaltschutzgesetzes,

(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie auch eine Meinung zu § 177?)

mit dem der Gesetzgeber erstmals Sorge dafür trug, dass Frauen vor allem vor Gewalt im privaten häuslichen Umfeld geschützt wurden.

Aber auch das Jahr 1997 möchte ich nicht unerwähnt lassen. Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe wurde in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Unfassbar, wie lange das gedauert hat und wie sich politisch dagegen gewehrt worden ist.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sieben Minuten sind gleich um!)

Noch unfassbarer ist allerdings, wer damals alles dagegengestimmt hat und heute immer noch politische Verantwortung trägt.

Ich fasse zusammen: Viel zu lange und viel zu oft wurden Abwehrschlachten geschlagen, die nichts anderes waren – das muss man bis zum heutigen Tag so deutlich sagen – als Täterschutz.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gehring?

Ja, selbstverständlich. Er ruft ja schon die ganze Zeit dazwischen.

(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder er denkt, dass Sie da einmal zum Thema kommen!)

Bitte schön, Herr Gehring.

Für meine Zwischenfrage gibt es einen Grund: Vielleicht kann ich Sie damit unterstützen, Ihnen noch etwas Redezeit zu geben, damit Sie auch zum aktuellen Gesetzentwurf endlich Stellung beziehen. Er scheint Ihnen ja so peinlich zu sein, dass Sie hier einen sehr fundierten, langen historischen Aufriss über die Errungenschaften der feministischen Bewegung und vieler Frauen, die hier dem Parlament angehört haben, bringen.

(Mechthild Rawert [SPD]: Das tut aber allen gut!)

Das tut gut, aber wir haben hier einen ganz konkreten Gesetzentwurf, der weit hinter den Anforderungen des „Nein ist ein Nein“ zurückbleibt.

Ich möchte dringend darum bitten, dass Sie jetzt zum Thema sprechen, zu dem aktuellen Entwurf, zu dem deutlich weiter gehenden Entwurf, den die Grünen heute hier vorlegen. Die bisherigen Errungenschaften können wir alle in der Parlamentsbibliothek nachlesen und uns gemeinsam darüber freuen. Aber es ist jetzt ganz wichtig, eine aktuell fundierte Regelung zu treffen und endlich deutlich zu machen: Ein Nein heißt nein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lieber Kollege, ich freue mich über Ihre Anmerkung. Ich kann Ihre Ungeduld an der einen oder anderen Stelle vielleicht nachvollziehen. Allerdings ist es wichtig, noch einmal deutlich zu machen – hier wiederhole ich den letzten Absatz, den ich gesagt habe –: Viel zu lange und viel zu oft wurden Abwehrschlachten geschlagen, die nichts anderes waren – das muss man so deutlich sagen – als Täterschutz.

Jetzt haben Sie bitte noch zwei Minuten Geduld, und Ihre Ungeduld bekommen Sie dann in den Griff. Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gilt überall. Der Staat ist in der Pflicht, es wirksam zu schützen und zu verteidigen, auch mit dem Strafrecht. Gestern hat das Kabinett den Gesetzentwurf zur Reform des Sexualstrafrechts von Bundesminister Heiko Maas auf den Weg gebracht – ein dringend benötigter Gesetzentwurf, der bestehende Regelungslücken bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung schließen wird. Im parlamentarischen Verfahren wollen wir weitere Ergänzungen; denn oft werden sexuelle Attacken nicht strafrechtlich geahndet, weil die derzeitige Rechtslage einen sexuellen Übergriff von einiger Erheblichkeit erfordert. Diese Hürde ist unklar definiert, und die Praxis zeigt: zu hoch. Deshalb werden wir hier unter anderem ansetzen.

Allerdings – das muss ich auch betonen – hätten wir heute schon den Gesetzgebungsprozess möglicherweise abschließen können. Doch wir haben sechs Monate verschenkt, da das Bundeskanzleramt trotz Mahnung und Unverständnis aus allen Fraktionen die Auffassung vertrat, dass der Gesetzentwurf zu weit ging. Erst auf massiven Druck der SPD-Bundestagsfraktion, aber auch von Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen unseres Koalitionspartners wurde er dann schließlich zum Jahresende freigegeben. Das möchte ich hier noch einmal in Erinnerung rufen. Der jetzt vom Bundesjustizminister Heiko Maas – ich bedanke mich ausdrücklich für seine Beharrlichkeit und sein Nichtlockerlassen –

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

vorgelegte Gesetzentwurf beinhaltet ein Kernanliegen:

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sie haben lange dazu gebraucht, ihn zu gewinnen, Herr Kollege!)

den klaren und lückenlosen Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Aufgrund der eingangs von mir genannten Fallzahlen muss es ein zentrales Anliegen des Gesetzgebers sein, hier den besten strafrechtlichen Schutz zu gewährleisten, indem bestehende Regelungslücken umfassend geschlossen werden und Täter nicht straflos davonkommen. Genau dieses Ziel werden wir jetzt angehen. Von nun an verteidigen wir hier im Plenum nicht mehr die Täter, sondern wir schützen die Opfer.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist reiner Wahlkampf! Das ist das Allerletzte! Es ist unglaublich!)

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Sylvia Pantel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Electoral Period 18
Session 161
Agenda Item Sexualstrafrecht
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