Johannes Singhammer - Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Europäische Kommission hat mit ihren Vorschlägen zur Reformierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems offen bekannt, was inzwischen eine Binsenweisheit ist: Das Dublin-System ist gescheitert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Ehrlichkeit halber und auch mit einer gewissen Demut sollten wir einräumen, dass auch wir dies vor nicht allzu langer Zeit noch anders gesehen haben. Es war ja auch zu schön für uns als ein Land ohne EU-Außengrenzen. Die Verantwortung für Asylbegehren von Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen, liegt gemäß Dublin allein bei den Ländern der Ersteinreise. Deutschland war aus dem Schneider. Die erste große Flüchtlingskrise hat dieses System weggefegt; es ist nicht mehr zu halten. Wenn wir noch einmal ehrlich sind: Es war intellektuell eigentlich nie zu rechtfertigen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die EU-Kommission will stattdessen nun eine gemeinsame und geteilte Verantwortung schaffen. In der ersten Variante schlägt sie eine eher moderate Fortentwicklung vor. Dabei bliebe es beim Grundprinzip von Dublin. Es würde um einen Notfallmechanismus für den Fall ergänzt, dass Schutzbedürftige in hoher Zahl in einem Land ankommen sollten. Nach der zweiten, sehr umfassenden Variante wären Flüchtlinge grundsätzlich auf alle Mitgliedstaaten zu verteilen, nicht nur in Krisensituationen. Die SPD-Fraktion befürwortet – so wie die Bundesregierung – den zweiten, umfassenden Reformansatz. Aber die Reaktionen im Ministerrat auf den Vorschlag fielen, vorsichtig gesagt, gemischt aus. Nur wenige teilen den grundsätzlichen Reformansatz. Eine größere Anzahl von Mitgliedstaaten plädiert für die Fortentwicklungsvariante, andere wiederum verneinen sogar, dass das Dublin-System gescheitert ist. So macht man Politik entlang der eigenen Interessen.
Ich glaube nicht, dass die Kommission wirklich überrascht war. Sie will aber jetzt, wo die Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung – zwar schleppend, aber immerhin – anläuft, ein Reformfenster öffnen. Sie will die Richtung zeigen, in die sich die Diskussion entwickeln soll. Sie will zeigen, wie aus der Summe von unterschiedlichen Maßnahmen ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem entstehen kann, das unseren gemeinsamen europäischen Werten entspricht, unserer Verantwortung für unsere Nachbarschaft gerecht wird und auch die eigenen Interessen bedient.
Zu diesem ganzheitlichen Ansatz gehört die Hilfe für von Krieg, Vertreibung oder existenzieller Not betroffene Menschen so nah wie möglich an ihrer Herkunftsregion. Zu diesem Ansatz gehört die Bekämpfung der Fluchtursachen. Dazu gehört ein Grenzschutzsystem, das die Mitgliedstaaten mit Außengrenzen bei der Erfüllung der Aufgabe unterstützt, den Zugang zu kontrollieren, ohne sich dabei abzuschotten. Das will ich wiederholen: Mir geht es darum, dass wir Grenzschutzsysteme verstärken, um einen kontrollierten Zugang zu ermöglichen. Die Verstärkung von Grenzschutzsystemen darf nicht dazu dienen, die Grenzen abzudichten und Europa zu einer Festung auszubauen.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Ansatz gehört es aber auch, legale Wege für schutzbedürftige Flüchtlinge nach Europa zu eröffnen und eine faire Lastenteilung, sowohl finanziell als auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen, zwischen den Mitgliedstaaten zu garantieren. All dies gehört zusammen.
Auch die beginnende Implementierung der EU-Türkei-Erklärung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Lösung. Sie zeigt uns, dass Kontrolle möglich ist, ohne den Zugang zu Asyl zu verhindern. Aber die Erfolgsaussichten sind fragil. Beide Seiten, die Türkei wie die EU – das sage ich ganz bewusst –, müssen mehr für eine tatsächliche Umsetzung tun. Aufseiten der EU muss endlich die Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei erfolgen. Es reicht nicht, 72 Menschen aufzunehmen, wenn eine Eins-zu-eins-Rücknahme zugesagt ist.
Frau Jelpke, ich glaube, Sie haben sich Informationsquellen bedient, die auf Ihrer Linie lagen. Sie sollten vielleicht alles lesen. Dann hätten Sie auch zur Kenntnis genommen, dass die Türkei inzwischen nicht nur Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt, sondern auch aus anderen Staaten. Auch das ist Teil der Vereinbarung.
Die Regierung der Türkei – das sage ich mit allem Nachdruck – muss auch im Interesse ihrer eigenen Bevölkerung endlich begreifen, dass die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten elementarer Bestandteil einer modernen Demokratie ist und dass diese für uns nicht verhandelbar sind, auch nicht zur Durchsetzung eines solchen sogenannten Deals.
Zwischen den Mitgliedstaaten wurde ein Verteilungsschlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei vereinbart, aber auch bei diesem Verteilungsschlüssel spielen einige Mitgliedstaaten nicht mit. Dabei ist es ein Irrglaube, dass es allein ein deutsches Problem sei, den Flüchtlingen menschenwürdig zu helfen. Wir müssen eine gemeinsame europäische Lösung finden. Es dürfen sich nicht immer mehr Mitgliedstaaten abschotten und Kontrollen an den Binnengrenzen einführen. Das hätte negative Folgen für jeden einzelnen Mitgliedstaat. Nicht nur der Binnenmarkt würde erheblich gestört, auch die Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums wäre dahin. Damit wäre das für die Bürgerinnen und Bürger wichtigste und sichtbarste Zeichen der europäischen Integration Vergangenheit.
Es steht viel auf dem Spiel. Wir brauchen eine gemeinsame Lösung. Die Kommission geht mutige und engagierte Schritte. Sie hat Rechtsakte angekündigt. Nach meiner Überzeugung kann man es aber nicht bei den angekündigten Vorschlägen belassen. Wir brauchen vielmehr weitere Maßnahmen, um zu einer unverzichtbaren, allumfassenden gemeinschaftlichen Lösung zu kommen. Dazu gehören die Verlagerung der Aufgaben auf die Kommission, die Finanzierung aller Flüchtlingskosten aus dem EU-Haushalt, die Schaffung von vergleichbaren Standards für Asylverfahren und bei Anerkennungsquoten und von vergleichbaren Standards auch in Bezug auf die Lebensbedingungen der Neuankömmlinge ebenso wie bei der Integration und bei den Chancen auf einen fairen Zugang zu Bildung und Arbeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist noch viel Überzeugungsarbeit bei unseren europäischen Partnern zu leisten. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen; denn wir alle wollen doch die beste Lösung finden.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Wir müssen den Schutzbedürftigen helfen. Ich glaube, am Ende werden auch die Zweifler erkennen, dass die Menschen, die auf Zeit oder auf Dauer zu uns kommen, ein Zugewinn für unsere gesamte Gesellschaft sind, und zwar überall in Europa.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6792489 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 167 |
Tagesordnungspunkt | Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union |