29.04.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 168 / Tagesordnungspunkt 24+ZP6+7

Philipp LengsfeldCDU/CSU - Tschernobyl und Fukushima - Risiken der Atomkraft

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede zu diesem Thema mit einem Bekenntnis starten: Ich war tatsächlich schon immer gegen die Atomkraft. Zugegeben, meine Motivation als Jugendlicher war sicherlich auch ein Stück weit politisch geprägt; denn ich bin in Ostberlin eher SED-kritisch aufgewachsen, und in den Jahren vor dem Mauerfall waren die Genossen von der SED noch nicht die stringenten Atomkraftgegner, als die sie sich heute darstellen.

(Christian Haase [CDU/CSU]: Ah, Wendehälse!)

Aber da bis auf die Grünen alle Fraktionen hier im Haus eine Lernkurve durchgemacht haben, will ich da weder zu streng noch zu einseitig sein.

Ich habe meine Haltung auch im Studium der Physik, während der Promotion oder in späteren Lebensabschnitten nicht grundlegend geändert. Dies hat natürlich auch sehr gute Gründe. Sie sind hier genannt worden. Ich wiederhole sie: Die Atomkraft hat das Sicherheitsproblem – gar keine Frage –, wie unter anderem die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima unterstrichen haben. Die Atomkraft hat das Problem der Lagerung der langlebigen Abfälle; auch das ist erwähnt worden. Jedes Problem ist für sich sehr gravierend. In der Kombination ist die Technik tatsächlich unattraktiv und nicht mehr zeitgemäß. Das gilt für die Kernfusion übrigens nicht.

Aber ich möchte hier trotzdem für mehr Augenmaß in der deutschen Debatte werben. Dazu muss ich noch einmal einige Gedanken auf die beiden schon erwähnten Katastrophen verwenden. Natürlich muss bei einer Erinnerung immer auch eine Analyse erfolgen.

Starten wir mit Tschernobyl, der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion. Hier erscheint mir die momentane deutsche Erinnerung größtenteils doch recht einseitig; denn diese Katastrophe hat nicht nur die Probleme der Atomkraft verdeutlicht, sondern in genauso krasser Weise die Schwächen und Unmenschlichkeiten des sowjet­kommunistischen Systems aufgedeckt. Auch daraus kann man etwas lernen.

(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU])

Der Sowjetkommunismus hat immer seine Wissenschaftlichkeit betont. Der gesamte Ostblock wurde durch Ingenieure und durch eine ingenieursgeprägte Weltsicht dominiert. Die Natur war etwas – das kann man zum Beispiel in einem der schlechteren Brecht-Gedichte nachlesen –, was sich der neue Sowjetmensch untertan macht. Die Atomkraft war die fast perfekte Energieform für diese Art Weltsicht. Aber diese Überheblichkeit gepaart mit Herrschaftswissen, totaler Intransparenz und einer nicht gewünschten, oft aktiv unterdrückten Verantwortungs- und Fehlerkultur führte in der Nacht zum 26. April 1986 direkt in die Katastrophe. Der Unfall von Tschernobyl war nämlich die Folge eines geplanten Testexperiments – mein Kollege hat es erwähnt – am gerade einmal drei Jahre alten Reaktor.

Leider hatte diese neue Generation von sowjetischen grafitmoderierten Siedewasserreaktoren inhärente Designschwächen, die aber ein wohlgehütetes Geheimnis waren. Diese Schwächen offenbarten sich in der Phase der Vorbereitung des Experiments. Statt aber abzubrechen, überbrückte das Personal mehrere Sicherheitsstrecken, um das von oben gewünschte Experiment durchführen zu können. Trotz zunehmender, immer ernsterer Warnsignale wurde der aufwendige Test nicht etwa abgeblasen, sondern letztlich gestartet, und damit wurde der Reaktor direkt in die Luft gejagt.

Auch in unmittelbarer Reaktion kam es zu katastrophalen behördlichen Fehlleistungen. Es wurde versucht, die Katastrophe in der systemüblichen Art zu vertuschen. Evakuierungen fanden zu zaghaft und viel zu spät statt. Die 1.-Mai-Parade in Kiew fand statt trotz massiver Risiken und Belastungen der Bevölkerung. Die Katastrophe von Tschernobyl, ihre Vor- und Nachgeschichte sind ein wesentlicher Grund, warum das Sowjetsystem wenige Jahre später zerbrochen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Reden Sie mal über Fukushima!)

Der Unfall von Fukushima stellt sich dagegen doch etwas anders dar. Ja, auch die Katastrophe von Fukushima hat die Schwächen der Atomkraft brutal aufgedeckt – gar keine Frage –: ein sehr unwahrscheinliches Restrisiko – aber es ist nun einmal vorhanden –, nämlich die Kombination von Erdbeben und Tsunami, die nicht genügende Redundanz der Sicherung der Kühlsysteme des sehr alten Reaktors und die Grundcharakteristika der Technik.

Trotzdem, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ist die Bilanz hier eine völlig andere. Der Unfall von Fukushima war ein Kollateralschaden einer gigantischen Tsunamikata­strophe – das wurde hier gar nicht in dieser Deutlichkeit gesagt –, die circa 18 000 Menschen in Japan das Leben gekostet hat. Und: Die japanischen Behörden haben ganz anders reagiert als die sowjetischen. Vielleicht hätte man es noch besser machen können, aber sie haben konsequent evakuiert; sie haben konsequent Jodtabletten verteilt.

(Ulli Nissen [SPD]: Das hilft uns ja weiter! Also: Jodtabletten für alle! – Weiterer Zuruf von der SPD: Super!)

– Ja, es ist einfach so.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der atomare Tod kommt langsam!)

Ohne Fukushima in irgendeiner Weise kleinreden zu wollen: Es muss konstatiert werden, dass zumindest nach aktuellem Kenntnisstand auch fünf Jahre nach der Katastrophe kein Todesfall auf die Verstrahlung im Zuge des Unfalls zurückzuführen ist.

Warum diskutiere ich diese Punkte so ausführlich? Weil es niemandem nützt, wenn man eine Technik einfach nur dämonisiert und nicht auch den zwingend notwendigen abgewogenen und umsichtigen Umgang mit jeglicher Technik mitdenkt. Es reicht nicht, immer nur auf einer Technik herumzuhacken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn es auch mancher nicht hören will: Radioaktivität ist auch ein natürlicher Prozess. Gammastrahlen sind Teil des elektromagnetischen Spektrums.

(Ulli Nissen [SPD]: Oh Mann! Ich kriege gleich eine Krise!)

Strahlenschutz und Reaktorsicherheit genügen physikalischen Gesetzen,

(Ulli Nissen [SPD]: Wo sind wir denn heute?)

die eigentlich leicht zu verstehen sind, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten deshalb weg von Panikmache

(Ulli Nissen [SPD]: Panikmache?)

und hin zu rationalen Abwägungen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auf Basis von diffusen, teils völlig irrationalen deutschen Ängsten werden wir mit anderen Nationen nicht auf Augenhöhe verhandeln können.

Gehen wir in diesem Licht die im Zusammenhang mit den Jahrestagen der beiden Reaktorkatastrophen diskutierten Themen, die hier heute immer erwähnt wurden, noch einmal durch:

Starten wir mit den Reaktoren unserer Nachbarn! In den Verhandlungen mit unseren Nachbarländern mit dem völlig berechtigten Anliegen, überalterte Reaktoren abzuschalten, müssten wir eigentlich nicht nur appellieren, sondern zahlen. Ich sage mal: 1 Milliarde Euro, 2 Milliarden Euro aus der jährlichen 25-Milliarden-EEG-Umverteilung wären sicherlich sehr hilfreich und könnten bestimmte Denkprozesse stark beschleunigen. Aber dies ist momentan natürlich weder politisch noch rechtlich abzubilden. Nachdenken sollten wir darüber vielleicht trotzdem.

(Ulli Nissen [SPD]: Ja, nachdenken sollte man, bevor man eine solche Rede hält!)

Auch der sehr zügige massive Ausbau von Wind- und Solarenergie in diesem Land hilft nicht – Herr Krischer, da können Sie noch so sehr den Kopf schütteln –, sondern ist eine zusätzliche Belastung auch in diesen Verhandlungen; denn er macht unser Netz instabiler und unsere Abhängigkeit von den Nachbarnetzen größer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Versorgungssicherheit ist auch ein Sicherheitsthema. Ein größerer Blackout in Deutschland oder Europa

(Ulli Nissen [SPD]: Wo planen Sie das Atomkraftwerk?)

wäre keine Unbequemlichkeit, sondern eine Katastrophe größeren Ausmaßes. Deshalb können wir zum Beispiel in den Fragen der Atomverträge nicht wie der Elefant im Porzellanladen agieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Wer ist der Elefant im Porzellanladen? Das sind doch Sie!)

Zuletzt zur Forschung; Frau Kotting-Uhl, Sie warten schon darauf. Ich bin der festen Überzeugung

(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, was hilft es uns?)

– Ihnen hilft das nicht, aber vielleicht anderen im Land –,

(Marco Bülow [SPD]: Eltern, die ihre Kinder durch Schilddrüsenkrebs verlieren, werden sich bestimmt damit trösten!)

dass auch in Zukunft eine sichere, also auch versorgungssichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung aus einem Mix bestehen wird. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn Sie mit Ihrem 100-Prozent-Glauben recht hätten: Es ist keine gute Portfoliopolitik, alles auf eine Karte zu setzen – erst recht nicht in einem Forschungsportfolio.

(Ulli Nissen [SPD]: Sie planen den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg, oder?)

Deshalb: Finger weg von der Sicherheitsforschung! Finger weg von den kleinen Resten der Kernforschung! Und vor allem: Finger weg von der Fusionsforschung!

Vielen Dank.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6794550
Wahlperiode 18
Sitzung 168
Tagesordnungspunkt Tschernobyl und Fukushima - Risiken der Atomkraft
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