29.04.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 168 / Tagesordnungspunkt 25

Christina Jantz-HerrmannSPD - Kultur und Geschichte der Deutschen in Osteuropa

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchte ich die Gelegenheit nutzen und herzliche Grüße und Genesungswünsche an meine liebe Kollegin Hiltrud Lotze aus unserem Haus übermitteln, die heute aus Krankheitsgründen leider nicht persönlich hier stehen kann.

(Beifall)

Sie hat sich in den vergangenen Monaten unermüdlich für das so wichtige Thema, über das wir heute reden, eingesetzt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In weniger als zehn Jahren feiern wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant. Sein Werk gehört zum Schwierigsten und Klügsten, was die Philosophie jemals hervorgebracht hat. Immanuel Kant hat auf Deutsch geschrieben. Er wurde in Königsberg geboren, dem heutigen Kaliningrad, einer Stadt, die einmal in Ostpreußen lag und heute zu Russland gehört. Immanuel Kant war Deutscher, aber in erster Linie war Immanuel Kant Europäer.

Was hat Kant mit der Kulturförderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes zu tun, über dessen Weiterentwicklung wir heute hier debattieren? Nun, so wie Immanuel Kant und Königsberg sind auch andere Orte und Geschichten in den Regionen Osteuropas, in denen seit Jahrhunderten Deutsche leben, ein Erbe, mit dem sich alle dort lebenden Völker auseinandersetzen, dessen Geschichte zunehmend angenommen, erforscht und weiterentwickelt wird. Kant gehört ebenso dazu, wie er zu unserer deutschen Geschichte gehört. Indem wir diese gemeinsame Vergangenheit aufarbeiten und miteinander darüber diskutieren, schaffen wir etwas sehr Wertvolles, und zwar ein gemeinsames europäisches Identitätsbewusstsein. Indem wir diese einzigartigen Kulturlandschaften, in denen Deutsche jahrhundertelang gelebt haben, im Sinne ihrer früheren und heutigen Bewohner bewahren, sie in Erinnerung rufen und das Erbe pflegen und weiterentwickeln, leisten wir einen wertvollen Beitrag für Europa insgesamt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Und das genau ist die Aufgabe des § 96 des Bundesvertriebenengesetzes.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Förderung von Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist eine Erfolgsgeschichte. Für dieses Thema interessieren sich nicht mehr nur die Betroffenen, die damals geflüchteten und vertriebenen Menschen, sondern der Interessentenkreis geht mittlerweile weit darüber hinaus. Schüler, Studierende, Wissenschaftler, auch Menschen ohne einen familiären Vertriebenenhintergrund fragen nach, interessieren sich genau für diese Geschichte, die wir zwar deutsch nennen, die aber vielmehr multikulturell, multiethnisch und multikonfessionell ist.

Die derzeitige Fördergrundlage, die diese Erfolgsgeschichte mitbegründete, ist die sogenannte Konzeption 2000, die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 verabschiedet wurde. Die Konzeption setzt auf Professionalisierung, Regionalisierung und die Öffnung für eine europäische Ausrichtung der Förderung. All diese Ansätze haben sich durchaus bewährt. Die Mitarbeiter in den geförderten Museen und wissenschaftlichen Instituten leisten eine hervorragende Arbeit. Gerade die wissenschaftliche Basis hat die Wege zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Partnereinrichtungen im östlichen Europa geebnet.

Aber seit dem Jahr 2000, in dem wir die Förderkonzeption geschrieben haben, hat sich einiges verändert. Europa hat sich verändert: 2004 sind alle drei baltischen Staaten, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn, 2007 dann Rumänien und Bulgarien und 2013 auch Kroatien der EU beigetreten. Die Kulturförderung nach § 96 findet damit innerhalb der EU statt. Die Erzählung von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa muss in diesen neuen europäischen Kontext gebettet werden. Deswegen haben wir uns im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der Union darauf verständigt, die Förderkonzeption des § 96 weiterzuentwickeln mit dem Ziel, die europäische Integration zu stärken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Noch etwas hat sich in den mehr als 15 Jahren, die seit 2000 vergangen sind, verändert: die Zielgruppen, die wir mit der Konzeption ansprechen. Ich erwähnte es bereits: Das Interesse an der Thematik weist schon lange über den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus. Das ist ein großer Erfolg; denn überall in der geschichtlichen Aufarbeitung stehen wir vor der Herausforderung, dass die Erlebnisgeneration schwindet. Von denjenigen, die Heimatverlust und eine oftmals traumatische Flucht verarbeiten mussten, leben leider nur noch wenige.

Es sind die Landsmannschaften, die durch ihre erfolgreiche Arbeit, durch ihre Projekte viele Verbindungen in ihre Heimatregionen pflegen und aufrechterhalten und damit einen wichtigen Teil zum Erhalt und zur Bewahrung der deutschen Kultur in den Ländern Osteuropas leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Allein schon ihr Wissen, die Geschichten der Heimat und die Geschichte ihrer Flucht – all das muss uns im Gedächtnis bleiben. Das, was mündlich erzählt werden kann, muss lesbar werden und für die Zukunft bewahrt werden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass dieser Teil unserer Geschichte in unseren Erinnerungskanon gehört, dass er gewürdigt und erinnert wird. Die geplante Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird dies als einen elementaren Teil aufgreifen.

Es muss aber auch diejenigen geben, die sich für diese Geschichte interessieren, ohne sie miterlebt zu haben. Es liegt daher in unser aller Interesse, dass sich auch Menschen ohne Vertriebenenhintergrund für die deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa interessieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Kulturförderung muss auch diese Menschen, vor allem auch die jungen Menschen, ermuntern, unsere Geschichte zu erforschen, auf Spurensuche zu gehen und unsere Verbindungen ins östliche Europa zu stärken.

Für uns ist die jetzt vorliegende Weiterentwicklung des § 96 Bundesvertriebenengesetz tragbar, jedoch nicht unbedingt überzeugend. Die Förderkonzeption hält an den Grundzügen der gewachsenen Förderstruktur fest. Weiterhin werden sechs Museen und vier Forschungseinrichtungen institutionell gefördert; gleichzeitig hat die Weiterentwicklung der Förderkonzeption den Anspruch, zukunftsweisende Maßnahmen und Kooperationsoptionen zu entwickeln.

Aber statt den Fokus zu weiten, verengt die vorliegende Konzeption den Blick dabei stark auf die Rolle der Landsmannschaften und den Bund der Vertriebenen. Um es nochmals deutlich zu sagen und nicht missverstanden zu werden: Die Perspektive der Vertriebenen und ihrer Nachkommen bleibt weiterhin von zentraler Bedeutung. Aber unser Ziel sollte doch auch sein, das Interesse von Menschen ohne persönlichen Vertriebenenhintergrund aufzunehmen.

Es ist ein Versäumnis der vorliegenden Konzeption, dass gerade bei der Ansprache der jüngeren Generation nur das Interesse bei den Nachkommen der Erlebnisgeneration von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung gesehen wird und dass explizit in der Förderkonzeption nur die Jugendorganisationen der Landsmannschaften als junge Interessengruppen genannt werden.

(Beifall der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Verständlich ist der Blick zurück. Das Vergangene ist zu vergewissern, aber bei der Weiterentwicklung der Förderkonzeption sollte die Zukunft im Vordergrund stehen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Zielausrichtung sollte auch in Richtung Europa gehen. Eine richtungs- und zukunftsweisende Konzeption mit den Worten zu beginnen: „Unter großen Opfern haben bis zu 14 Millionen Deutsche als Vertriebene und Flüchtlinge ihre Heimat verlassen.“, wie im Entwurf des Hauses BKM zunächst vorgeschlagen, lenkt den Blick in die Vergangenheit.

Wir als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen daher ausdrücklich, dass unsere Anmerkung aufgenommen wurde, den Grund für eine Weiterentwicklung, nämlich die verstärkte europäische Integration, an den Anfang zu stellen und damit das richtige Signal auszusenden.

(Beifall bei der SPD)

Damit wird keinesfalls das große Leid negiert, das insbesondere die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs tragen mussten.

Neben der leider starken Fokussierung auf eine bestimmte Interessengruppe beinhaltet das Papier aber besonders in den Fördergrundsätzen gute Punkte, wie wir finden. So muss die Erforschung und Vermittlung des jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa in die Förderkonzeption aufgenommen werden – ein längst fälliger Schritt.

Auch zeitgemäße mediale Vermittlungs- und Arbeitsformen – ich nenne dabei das Stichwort „Social Media“ – sind nun Kriterien der Förderung. Wichtig für die SPD ist, dass die exzellente wissenschaftliche Basis mit der Weiterentwicklung bestehen bleibt und weiter ausgebaut wird. Genau das ist hierbei der Fall.

Es wäre aber auch möglich gewesen, das große Potenzial, das in der Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz steckt, mit einer Weiterentwicklung noch stärker auszuschöpfen, die breite Öffentlichkeit anzusprechen und dieses interessante Themenfeld für viele Interessierte, ob nun mit oder ohne Vertriebenenhintergrund, zu stärken. Das Interesse ist da.

Bei der handwerklich guten Förderkonzeption – –

Frau Kollegin, Sie müssen allmählich – –

Das mache ich gerne. Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident.

Das tut mir leid. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich das andächtig abgewartet.

(Heiterkeit)

Bei der handwerklich guten Förderkonzeption hätten wir uns mehr Mut seitens der BKM gewünscht.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Kollegin Schauws erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6794606
Wahlperiode 18
Sitzung 168
Tagesordnungspunkt Kultur und Geschichte der Deutschen in Osteuropa
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