Gabriela HeinrichSPD - Bekämpfung von Fluchtursachen
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Roth, Sie haben völlig recht: Wir müssen eine unheimlich breite Debatte führen. Das haben viele Beiträge gezeigt. Wer Fluchtursachenbekämpfung – blödes Wort; Vermeidung trifft es eher – betreiben will, muss sehr viel breiter diskutieren. Wir müssen diese Debatte führen. Aber gestatten Sie mir, dass ich heute zu unserem Antrag rede.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Im Titel steht: „Fluchtursachen bekämpfen“!)
Dieser hat den Zusatz „Aufnahmestaaten um Syrien sowie Libyen entwicklungspolitisch stärken“. Deshalb werde ich mich darauf beziehen.
Über 250 000 Tote, über 1 Million Verletzte und mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht: Das ist die aktuelle Situation in Syrien. Nicht erst, nachdem es einem Teil der Flüchtlinge gelungen ist, nach Europa, nach Deutschland zu kommen, geht uns dies etwas an. Wenn wir über Fluchtursachen reden, dann reden wir über Krieg, Hass und Gewalt und über Perspektivlosigkeit. Wir reden über Menschen, die die Hoffnung verloren haben, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können, weil die Kämpfe immer weitergehen und der Frieden fast undenkbar scheint. Das geht uns etwas an. Deshalb bin ich den Ehrenamtlichen dankbar, die hier bei uns den Flüchtlingen helfen. Ich bin froh über das Engagement der Bundesregierung und insbesondere das Engagement unseres Außenministers Frank-Walter Steinmeier.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Er setzt sich für einen möglichen Frieden in Syrien und auch in Libyen ein. Ich glaube, das können auch Sie nicht bestreiten.
Die Menschen kommen aus vielen Ländern zu uns. Sie suchen in Europa Sicherheit vor Bomben und Gewalt. Wir alle wissen, wie viele Menschen auf dem Weg zu einem sicheren Leben eben dieses Leben verloren haben. In Idomeni konnte ich letztens als Begleitung der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung mit einigen Syrern reden. Ja, sie harren dort unter unsäglichen Bedingungen aus, in der Hoffnung, dass sich die Grenze wieder öffnet.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann können sie doch jetzt gehen! Wege gibt es genügend!)
Sie haben alles verkauft, was sie noch hatten, um die Flucht nach Griechenland zu finanzieren, obwohl sie in Idomeni vermeintlich schon in Sicherheit waren.
Frau Hänsel, ich sage Ihnen: Zu dem Zeitpunkt, als ich in Idomeni war, ging dort das Gerücht herum, ein Ministerpräsident – ich glaube, aus Thüringen – habe angekündigt, man könne doch 2 000 der Flüchtlinge dort übernehmen. Was glauben Sie, was in einem Camp – es ist kein richtiges Camp, es gibt dort keine Rechtssicherheit – mit 12 000 Menschen passiert, wenn 2 000 Menschen denken, sie könnten den Weg antreten?
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die anderen Länder hätten doch auch welche übernehmen können! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Länder hätten doch auch alle aufnehmen können! So ein Quatsch! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie haben mehr Ministerpräsidenten als wir!)
Ich sage, es ist auch schäbig, wenn Aktivisten dafür sorgen, dass die Menschen dort verharren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es ist schäbig von ihnen, die Menschen dort zu halten, indem sie ihnen Hoffnung machen, dass die Grenze wieder aufgeht.
Darüber, dass wir hier eine europäische Lösung brauchen, bin ich mit Ihnen völlig einig. Aber es kann nicht angehen, dass Sie sich hierhinstellen und sagen: Nehmt sie halt alle auf, und dann sind die Sorgen erledigt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist lächerlich!)
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zu?
Bitte.
Liebe Kollegin Heinrich, ich muss schon sagen: Wie Sie hier Ursache und Wirkung verdrehen, ist wirklich schändlich. Ich war letztes Jahr in so vielen Regionen, in denen Flüchtlinge ankommen: auf den griechischen Inseln, in den Balkanstaaten usw. Wenn es die freiwilligen internationalen Helfer nicht gegeben hätte, wären viele Flüchtlinge verhungert. Es gab fast keine Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft. Auf Lesbos, auf Chios haben ausschließlich Freiwillige die Versorgung der Flüchtlinge übernommen. Es war niemand zu sehen, weder Vertreter der UN noch sonstiger großer Organisationen. Jetzt wollen Sie den Freiwilligen vorwerfen, sie seien verantwortlich dafür, dass die Flüchtlinge dort in einer schlechten Situation leben? Das ist ja wirklich zynisch.
Was Bodo Ramelow angeht: Es war doch – genau umgekehrt – ein gutes Beispiel, mit dem er vorausgehen wollte. Er wollte zeigen: Wir nehmen Flüchtlinge aus Idomeni auf. – Wenn sich alle Bundesländer angeschlossen hätten,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
dann hätten alle hierherkommen können.
Es kann doch nicht sein, dass 12 000 Menschen für ein Land mit 80 Millionen Einwohnern plötzlich die riesengroße Gefahr sind. Wieso kann man keine menschliche Politik betreiben und die Leute hierherholen? Die Familien sind jetzt zerrissen. Das, was dort passiert, ist ein großes Drama, ein Trauerspiel. Insofern war es genau die richtige Antwort von Bodo Ramelow.
(Beifall bei der LINKEN)
Kollegin Hänsel, ich halte diese Antwort von Bodo Ramelow trotzdem für falsch. Ich versuche, Ihnen zu erklären, warum. Wenn man in einer solchen Situation verhindert, dass die Menschen sich registrieren lassen,
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss jetzt nicht an der Registrierung scheitern!)
in die umliegenden Camps gehen, die es ja gibt – die Voraussetzungen sind dort deutlich besser; ich habe sie mir angeschaut –, und versuchen, im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland zu kommen, dann sorgt man nicht dafür, dass es vorangeht.
Natürlich können Sie sich hinstellen und sagen: Nehmen wir mal die 12 000 Flüchtlinge und demnächst 15 000 Flüchtlinge auf! –
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was heißt hier „Nehmen wir mal …“? Die Leute sitzen dort fest seit einem halben Jahr!)
Ich glaube aber, Deutschland und der Bundesregierung vorzuwerfen, dass im letzten Jahr nicht genug Menschen aufgenommen wurden, ist wirklich ein bisschen übertrieben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das war doch nicht der Vorwurf!)
Die Frage ist halt, inwieweit wir sagen sollten, dass es immer so weitergeht.
Ich würde jetzt gerne zu meiner Rede zurückkommen.
(Beifall des Abg. Stefan Rebmann [SPD])
Sie haben Idomeni ins Spiel gebracht. An dieser Stelle mache ich jetzt weiter. – Manche der Menschen in Idomeni waren bereits drei Jahre in der Türkei. Sie haben fast ihr ganzes Geld verbraucht und sehen keinerlei Perspektiven, in ihrem Erstaufnahmeland Fuß zu fassen – nicht für sich, schon gar nicht für ihre Kinder. Der Rest des Geldes ist jetzt für Schlepper draufgegangen. Manchmal reichte er nur für ein Familienmitglied, das dann natürlich so schnell wie möglich seine Familie nachholen möchte. Sie fliehen erneut, weil sie wissen, dass es viele Jahre dauern kann, bis sie vielleicht jemals in die Heimat zurückkehren können.
4,8 Millionen syrische Flüchtlinge haben bisher in den Nachbarstaaten Syriens Aufnahme gefunden: in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, im Irak. Die wenigsten können arbeiten, unendlich viele Kinder können nicht in die Schule gehen, und die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Mit unserem vorliegenden Antrag zielen wir darauf ab, neue Perspektiven zu schaffen. Dieser Aufgabe müssen wir uns, muss sich Europa stellen, und zwar unabhängig vom EU-Türkei-Abkommen. Das ist mir an dieser Stelle wirklich wichtig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Wir brauchen die Diplomatie, aber wir brauchen zuallererst humanitäre Hilfe, um Menschen in akuter Not auf der Flucht zu versorgen. Bei aller Kritik: Deutschland ist der drittgrößte bilaterale Geber im Bereich humanitäre Hilfe. Wir haben durchaus verstanden, dass die internationalen Hilfsorganisationen viel mehr Unterstützung brauchen, weil die Zahl der Flüchtlinge immer weiter ansteigt, und dies der erste Weg ist, um den Menschen direkt zu helfen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn wir die Entwicklungspolitik heranziehen, um Fluchtursachen zu vermeiden, dann geht es um längerfristige Perspektiven für die Flüchtlinge, aber auch für die Aufnahmeländer, weil Integration eben kein vorübergehendes Phänomen ist. Wenn wir in Deutschland ein Integrationskonzept auflegen, dann doch auch, weil es eben nicht vorübergehend sein wird. Deswegen unterstützen wir mit der Beschäftigungsinitiative „Cash for Work“, mit der bis zum Ende des Jahres mindestens 50 000 Jobs in Jordanien, im Irak und in der Türkei entstehen sollen, eben nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die Aufnahmeländer. Deswegen setzen wir uns für die flächendeckende Absicherung des Schulunterrichts für alle Kinder in den Aufnahmestaaten ein. Wir müssen und wollen sicherstellen, dass keine verlorene Generation entsteht. Das sind wir den Kindern schuldig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn wir nachhaltig Fluchtursachen beseitigen wollen, dann müssen wir den Blick noch weiter richten. Wir wollen den Zivilen Friedensdienst weiter stärken mit Projekten zur Krisenprävention, Gewaltminderung und langfristigen Friedenssicherung, auch und gerade unter Beteiligung der Frauen. Dazu gehören auch die psychosoziale Unterstützung und die Arbeit mit traumatisierten Menschen. Wenn Syrien eine Zukunft haben soll, dann werden dort Menschen zusammenleben müssen, die sich derzeit noch mit Waffen gegenüberstehen. Natürlich hoffen wir auf einen Frieden in Syrien, aber er wird nur nachhaltig sein, wenn es gelingt, einen Wiederaufbau international zu organisieren und zu finanzieren.
Wenn wir über den Nahen Osten reden, dann müssen wir auch über Libyen reden. Dort trägt der Präsidialrat noch nicht wie erhofft zur Stabilisierung des Landes bei, aber eine Stabilisierung ist die Voraussetzung dafür, in Libyen entwicklungspolitisch tätig zu werden. Auch hier geht es darum, ein Land zu unterstützen, aus dem viele Menschen aufgrund von Gewalt in die Nachbarländer geflüchtet sind, zum Beispiel nach Tunesien. Es geht aber auch um Libyen als Transitland. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass sich Hunderttausende Flüchtlinge in Libyen skrupellosen Schleppern ausliefern und die gefährliche Überfahrt nach Europa wagen. Die Stärkung der staatlichen Strukturen, der Frieden und irgendwann auch der Wiederaufbau sind entscheidend, um den Schleppern und den Terroristen in Libyen das Handwerk zu legen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Aus Sicht der SPD ist das, was im vorliegenden Antrag steht, auch ein Teil des richtigen Weges, den wir in Zukunft fortsetzen wollen und müssen, auch dann, wenn nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen und vielleicht wieder verstärkt die Frage im Raum stehen wird: Was geht uns das an?
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6830319 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 170 |
Tagesordnungspunkt | Bekämpfung von Fluchtursachen |