13.05.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 171 / Tagesordnungspunkt 17

Sebastian HartmannSPD - Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist und bleibt ein weltoffenes Land, das wie kein anderes in Europa international geachtet wird und seine internationale Verantwortung gerade auch in Krisenzeiten vorbildlich wahrnimmt. Daran wird auch die Einstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaaten nichts ändern, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU])

Reden wir nicht drum herum: Natürlich ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten umstritten. Auch in der SPD-Fraktion haben wir darum gerungen und darüber diskutiert, ob man diese Einstufung vornehmen kann. Wir haben im Innenausschuss beraten. Wir haben eine Anhörung durchgeführt. Aber wir werden heute diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir verschiedene gute Gründe dafür haben.

Wichtig ist vor allen Dingen, dass man zwischen zwei Gruppen unterscheiden muss. Wir wollen ein effektives, ein effizientes Asylsystem – effektiv, weil wir das Asylrecht dem zuweisen, der es wirklich verdient, der als Flüchtling, als Asylsuchender darauf angewiesen ist, in unserem Rechtsstaat Asyl zu erhalten. Und er wird weiterhin Asyl erhalten. Davon zu unterscheiden ist derjenige, der dieses System nutzt, um ein Bleiberecht zu konstruieren, obwohl er eigentlich ein anderes Rechtssystem bräuchte, vielleicht aber auch ganz andere Gründe hat. Der wird – auch unabhängig von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat – kein Bleiberecht über das Asylrecht konstruieren können. Der Verantwortung, hier zu unterscheiden, müssen wir gemeinsam gerecht werden.

Man muss auch mit einem weiteren Punkt aufräumen. Insofern sage ich – das habe ich auch in erster Lesung gesagt –: Lassen Sie uns doch von mutmaßlich sicheren Herkunftsstaaten sprechen.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ihr macht doch heute das Gegenteil! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht aber nicht im Grundgesetz! Da steht nicht „mutmaßlich“!)

Es geht nämlich um eine widerlegbare Vermutung der Verfolgungsfreiheit. Es wird nach wie vor darum gehen, zu belegen, dass man verfolgt ist. Das ist genau der Punkt, den wir beachten werden.

Wir haben uns die Punkte, die der Bundesrat eingebracht hat, zu eigen gemacht. Wir haben sie in der Anhörung thematisiert. Es sind bestimmte Gruppen benannt worden – ich benenne sie konkret: die Lesben und Schwulen –, die einer Verfolgung ausgesetzt sind. Wir Deutschen sollten uns die Einstufung da nicht zu einfach machen; denn wir selbst haben unser Strafrecht erst 1994 entsprechend angepasst und sind noch lange nicht am Punkt vollständiger Gleichberechtigung angekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Insofern werden wir das auch nicht schematisch machen. Es ist eine widerlegbare Vermutung.

Wenn wir jetzt über das Verfassungsgerichtsurteil von 1996 sprechen, dann müssen wir es richtig einordnen und einen Unterschied erkennen: Wir haben nun eine veränderte Situation, weil wir im Oktober mit den Änderungen im Asylrecht eine Verfeinerung der Zusammenarbeit zwischen der Regierung auf der einen Seite und dem Parlament auf der anderen Seite vorgenommen haben. Das System der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht mehr mit der Rechtslage zu vergleichen, die bestand, bevor wir die Asylverfahren beschleunigt haben. Denn die Liste der sicheren Herkunftsstaaten wird nun einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen, das erste Mal schon im Oktober 2017. Die Hürde für die Aufnahme in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten liegt viel höher als die Hürde für die Streichung von dieser Liste; denn die Streichung ist ein einfacher Schritt seitens der Regierung. Es wird ein engeres Monitoring der Menschenrechtslage geben. – Der Innenminister nickt. Das ist genau der Punkt, auf den wir gedrängt haben. Das Signal hinsichtlich der sicheren Herkunftsstaaten ist nun ein anderes; das Streichen von der Liste ist viel schneller geschehen als die Aufnahme in die Liste. Wir können darauf stolz sein, dass wir das als Parlament durchgesetzt haben, auch dank der Anhörung und der Diskussionen im Innenausschuss.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Man kann das nicht mehr so schematisch betrachten.

Die SPD hat sich diese Diskussion nicht leicht gemacht. Wir unterscheiden zwischen den Gruppen und legen fest, wer Asyl bekommen muss. Wir wissen angesichts der Zahlen Folgendes – in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen wurde es sehr deutlich –: Es gab über 500 Fälle, in denen Menschen aus den Maghreb-Staaten gar nicht versucht haben, einen Asylantrag zu stellen, die bei der Überprüfung schon gesagt haben, das sei gar nicht der Punkt, den sie erreichen wollten. In diesen Fällen wurde sehr schnell eine Entscheidung gefällt. Es geht um eine Beschleunigung der Asylverfahren für diese Gruppe. Denn alle Menschen in diesem Land verlassen sich darauf – ich sage bewusst: alle Menschen –, dass wir ein effizientes System haben, bei dem schnell klar wird, ob man Recht auf Asyl hat oder nicht. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, aber es gilt auch für die Flüchtlinge, die schnell eine klare Aussage über ihr Bleiberecht und ihre Integrationschancen brauchen. Auch für diese Menschen beschleunigen wir das Asylverfahren;

(Beifall bei der SPD)

um diese Menschen geht es doch auch. Es geht nicht um die Gruppe, die dieses Recht ausnutzen will, obwohl es ihnen nicht zusteht.

Ein weiterer Punkt ist: Ich möchte mich ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Entscheidern des BAMF bedanken. Ich habe hohen Respekt vor den Menschen, die die Aufgabe haben, über Schicksale zu entscheiden. Diesen Punkt haben wir thematisiert. Wir haben gefragt: Wenn wir die Regelvermutung einführen, wie genau prüft ihr, dass keine Verfolgung vorliegt? Wie klärt ihr das mit dem Dolmetschen? Überprüft ihr die medizinischen Angaben? Die Aussagen der Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – das kann man im Protokoll nachlesen – sind sehr eindeutig: Es wird an dieser Stelle keine Verfahrensbeschleunigung geben, sondern eine schnellere Klärung in Gruppen, aber derjenige, der seine Gründe vorträgt, kann nach wie vor sein Schutzrecht beanspruchen.

Ein Indikator in der Debatte über die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat war die Frage: Wie hoch ist die tatsächliche Schutzquote der Menschen, die aus den Maghreb-Staaten kommen? In absoluten Zahlen: 1, 22 oder auch um die 40, wenn wir uns die entschiedenen Fälle im Jahr 2015 anschauen. Aber erst wenn wir wissen, dass die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt, obwohl die Zahl der Einreisen deutlich zurückgegangen ist, weil man nicht mehr den Umweg des Asylantrags gehen muss, wenn man keinen Asylgrund hat, um ein Bleiberecht in Deutschland zu konstruieren, dann haben wir ein Indiz dafür, dass die Einstufung richtig war.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Derjenige, der vorher in der Einstufung war, wird es dann auch bleiben. Das werden wir im Zuge des Monitoring prüfen.

Wir verlassen uns darauf, dass die Bundesregierung den Prozess anders anlegt als bei der Einstufung; denn es ist viel einfacher, von der Liste gestrichen zu werden, als in sie aufgenommen zu werden. Daran werden wir als SPD-Fraktion dieses Verfahren messen. Denn die Einstufung zu einem sicheren Herkunftsstaat ist eine Einstufung auf Widerruf. Das ist der Unterschied bei dieser Änderung des Asylgesetzes. Wir haben das Zug um Zug gemacht.

(Beifall bei der SPD)

Natürlich standen für die SPD-Fraktion auch andere Aspekte im Mittelpunkt, nämlich dass es rechtssichere Verfahren gibt, dass schnelle Entscheidungen getroffen werden und dass denjenigen, die eine Bleibeperspektive haben, ein schneller Zugang zu Integrationsmaßnahmen gewährt wird. Deswegen sagen wir immer: Wir brauchen ein Paket. Wir brauchen ein Integrationsgesetz, aber auch mehr Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, damit mehr Entscheidungen schnell und rechtssicher getroffen werden können. Wir haben eine Überprüfung durch unabhängige Gerichte. Deutschland ist ein Rechtsstaat – Russland ist erwähnt worden –, und wir verlassen uns darauf, dass die Entscheidungen entsprechend überprüft werden.

(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Wir haben uns die Überprüfungsquoten angesehen. Im Wesentlichen bestätigen sie die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Das spricht für die Entscheidungsqualität. Auch das werden wir nach der Einstufung zum sicheren Herkunftsstaat weiter überprüfen.

(Beifall bei der SPD)

Unser Fokus liegt klar auf effektiven und effizienten Verfahren. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber wir werden sie heute treffen, weil wir der festen Überzeugung sind: Wir sorgen für eindeutige gesetzgeberische Grundlagen. Das Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament wird weiter verfeinert. Die Listen werden überprüft und gegebenenfalls gekürzt, wenn es sein muss.

In diesem ausführlichen Prozess haben wir uns die Stellungnahme des Bundesrates zu eigen gemacht; denn der Bundesrat muss dem Ganzen auch noch zustimmen. Wir haben seine Rechte besonders betont, auch als Ergänzung zur Gegenäußerung der Bundesregierung. Wir haben gesagt: Genau darauf wollen wir den Fokus richten. Es geht darum, dass Menschen ein Recht auf Asyl haben, wenn sie seiner bedürfen.

Wenn wir als SPD heute zustimmen, dann tun wir das erstens, weil die Vereinbarungen im Paket getroffen wurden und wir das Gesamtkonzept im Blick haben.

Zweitens. Wir erhalten damit ein Mittel zur Verfahrensvereinfachung und Klärung, um den Menschen, die kein Asyl bedürfen, klar zu sagen: Ihr habt keine Chance. Ihr müsst in den Ankunftszentren verbleiben.

Drittens. Zur Debatte über die sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, festzustellen: Die Einstufung in sichere Herkunftsstaaten ist kein Allheilmittel. Es reicht nicht aus, die Liste durch weitere Staaten zu ergänzen. Vielmehr muss eine entsprechende Diskussion in den betroffenen Staaten geführt werden, damit die Menschen wissen, welche Chancen sie in Bezug auf das Einwanderungs- oder Asylrecht haben oder eben nicht. Vor allen Dingen – deswegen die Reise des Innenministers in die Maghreb-Staaten – müssen die Rückführungen organisiert werden. Wir haben damit in den jeweiligen Staaten eine entsprechende Debatte ausgelöst.

Viertens. Wir verlassen uns darauf, dass das Monitoring der Bundesregierung weiter verfeinert und den von uns zugrundegelegten Anforderungen gerecht wird.

Fünftens und abschließend. Lassen Sie uns die Vorlage des ersten Berichts der Bundesregierung über die Einstufung der sicheren Herkunftsstaaten im Oktober 2017 abwarten. Lassen Sie uns abwarten, ob das Instrument so wirkt, ob die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt, ob die Zuerkennung nach wie vor rechtssicher erfolgt und ob das Instrument zu einer Verfahrensvereinfachung führt.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Menschenrechtslage vor Ort sich bessert? Geht das auch ein?)

Wir müssen an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir haben diese Liste ergänzt; aber damit ist es auch gut, weil wir jetzt andere Dinge in den Mittelpunkt rücken müssen, und zwar die Integration und die Entwicklungszusammenarbeit, die bereits angesprochen worden ist. Wir stellen uns ausdrücklich dahinter, weil wir Fluchtursachen vor Ort bekämpfen müssen.

Wir werden als Bund unserer Verantwortung gerecht, wenn wir das Verfahren rechtssicher ergänzen und dafür sorgen, dass auch nach der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten die widerlegbare Vermutung in unserem Rechtsstaat im Einzelfall genutzt werden kann, sodass wir uns nicht zu scheuen brauchen, diesem Gesetzentwurf heute zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Volker Beck bekommt nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6833460
Wahlperiode 18
Sitzung 171
Tagesordnungspunkt Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien
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