Volker BeckDIE GRÜNEN - Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will ausdrücklich würdigen, dass wir uns im Haushaltsausschuss zusammengefunden haben, um gemeinsam eine Lösung für die Entschädigung der sowjetischen Kriegsgefangenen hinzubekommen. Das ist ein wichtiger und nicht gering zu schätzender Schritt der moralischen Anerkennung des Unrechts, das von Deutschen gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurde. Bitter bleibt, dass es Jahrzehnte zu spät kam und viele der Betroffenen das nicht mehr erlebt haben.
Ich finde, wir als Bundestag sollten zu diesem Thema nicht schweigen; denn: „Nur durch die Erinnerung an ein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wiederholt, in welcher Form und auf welchem Erdteil auch immer.“ „ Der Deutsche Bundestag darf dazu nicht schweigen.“
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Die Ereignisse mögen lange zurückliegen. Die Wunden
– der Opfer und –
bei den Nachfahren der Opfer sind aber geblieben, und daher ist es an der Zeit, dass auch das deutsche Parlament dazu klar Stellung nimmt.
Das sind Worte des Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bedeutenden Entscheidung des heutigen Tages: Wir haben den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Wir sagen zu Recht dem türkischen Volk, dass die Grundlage für Versöhnung und die Grundlage für eine gemeinsame gute Zukunft unter den Völkern die Anerkennung der historischen Wahrheit ist. Das, was wir gegenüber der Türkei richtigerweise sagen, das sollten wir auch uns selbst bei der Aufarbeitung unserer Geschichte in diesem Fall zu Herzen nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wenn Sie, Herr Berghegger, darauf rekurrieren, es gebe im Entschädigungsrecht eine Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dem Bundesentschädigungsgesetz, dann will ich Ihnen sagen, weil ich dieses Thema jetzt schon mehr als 20 Jahre im Parlament betreue und vorher auch daran gearbeitet habe: Wir haben uns in den 80er- und 90er-Jahren entschieden, die historisch falsche Entscheidung nicht wieder aufzumachen und mit den zu diesen beiden Gesetzen eingerichteten Härtefonds weiter zu verfahren. Aber selbstverständlich war die Verfolgung der Homosexuellen, der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten und der Wehrmachtsdeserteure auch nationalsozialistisches Unrecht. Das hat der Deutsche Bundestag in mehreren Resolutionen eindeutig festgestellt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Trotzdem bekommen die Betroffenen Leistungen aus dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen der falschen Entscheidung des historischen Gesetzgebers.
Man sollte an falschen Entscheidungen nicht festhalten und versuchen, ein System darin zu erkennen, sondern man sollte den Mut haben, bei der historischen Würdigung die historische Wahrheit zugrunde zu legen, und die historische Wahrheit ist – das haben wir uns in der Anhörung, die wir im Haushaltsausschuss hatten, von den Fachleuten, von den Historikern sagen lassen –: Der Mord und das Verhungernlassen von 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Russenlagern hatte nichts mit Staatsunrecht und mit überbordender Gewalt im Rahmen von Kriegshandlungen zu tun, sondern es war der erklärte Wille des nationalsozialistischen Regimes, aufgrund seiner Rasseideologie die Völker der Sowjetunion zu dezimieren. Dazu gehörte das kriegssinnwidrige Aushungernlassen der Kriegsgefangenen in den Lagern, die eigentlich dafür bestimmt waren, in der deutschen Rüstungsindustrie die deutschen Soldaten zu ersetzen. Aber man hat sie lieber sterben lassen, als ihre Arbeitskraft auszubeuten, weil man der Ansicht war, dass die Völker der Sowjetunion rassisch minderwertig sind. Das war nationalsozialistische Ideologie, und das war nationalsozialistisches Unrecht. Wir sollten die Kraft haben, das auch zu sagen.
Daraus folgt entschädigungsrechtlich überhaupt nichts. Das Bundesentschädigungsgesetz hat sein Schlussgesetz 1969 gehabt. Seitdem sind keine Neuanträge mehr möglich. Es geht um die historische Wahrhaftigkeit, um nicht mehr und nicht weniger.
Ich weiß, dass die Koalition am Ende keinem Antrag der Linken zustimmen wird, schon aus Prinzip nicht. Wir haben einen Antrag eingebracht. Er liegt im Haushaltsausschuss, und er ist noch nicht beschieden. Er ist bewusst noch nicht beschieden, weil wir mit Ihnen zusammenkommen wollen. Lassen Sie uns mit allen Fraktionen einen gemeinsamen Text finden, den wir fraktionsübergreifend hier im Hohen Hause tragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Lassen Sie uns die Rede des Bundespräsidenten Gauck vom 8. Mai letzten Jahres zugrunde legen, der dafür würdige Worte gefunden hat, und lassen Sie uns mit den klaren Worten schließen: Die Verbrechen, die an den sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurden, waren nationalsozialistisches Unrecht. – Punkt. Dann ist Frieden in dieser Frage.
Ich finde, gerade angesichts der schwierigen außenpolitischen Situation, die wir mit der Ukraine und Russland haben, wäre es ein gutes Signal der Versöhnung, dass wir zu unserer historischen Verantwortung stehen und trotz aller Differenzen mit der russischen Staatsführung Freunde des russischen, des ukrainischen, des weißrussischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen Sowjetunion sind und hier keine Abstriche machen, auch wenn wir politische Auseinandersetzungen haben. Insofern könnte das außenpolitisch noch eine gute Geste der Entspannung sein, bei der wir uns nichts vergeben, außer dass wir unsere Geschichte mit klarerem Blick und mit größerer Wahrhaftigkeit betrachten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Matthias Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6888833 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 173 |
Tagesordnungspunkt | Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer |