03.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 174 / Zusatzpunkt 4

Andrea Nahles - Integrationsgesetz

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „ Bitte Arbeit!“ – ich habe in den letzten Monaten auch persönlich erleben dürfen, mit wie viel Energie, mit wie viel Willen die Menschen, die zu uns gekommen sind, versuchen, sich eine neue Zukunft aufzubauen, und das nach einschneidenden Erlebnissen, nach Erfahrung von Gewalt, Krieg, langer Flucht und Verlust.

„Bitte Arbeit!“ – das sind oft die ersten deutschen Worte, die viele lernen und auch lernen wollen, weil sie gar nicht abhängig sein wollen, weil sie es hassen, nicht arbeiten zu können, weil ihnen vielleicht noch Voraussetzungen wie Sprache oder zum Beispiel der Status fehlen, die sie brauchen, um arbeiten zu können. Vielleicht sind die ersten Worte auch deswegen „Bitte Arbeit!“, weil sie wissen, weil auch wir wissen: Der beste Weg zu Integration ist der Weg in Arbeit.

Der heute hier vorliegende Entwurf eines Integrationsgesetzes ist so wichtig, weil wir damit die klare Botschaft aussenden: Wir wollen es gemeinsam mit diesen Menschen schaffen, dass sie den Weg in den deutschen Arbeitsmarkt erfolgreich gehen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Kollege de Maizière hat es sehr deutlich gesagt: Das ist keine Kleinigkeit, das geht auch nicht mal eben so nebenher. Das wird eine große Anstrengung werden: für die, die zu uns kommen, genauso wie für uns, weil wir die Bringschuld haben, Angebote zu machen.

Umgekehrt stehe ich voll hinter dem Gesetz, wenn es um die Mitwirkungspflichten geht, die es geben muss. Angebote machen, Chancen geben, das heißt auf der anderen Seite auch: Mitwirken. Ehrlich gesagt: Das halte ich für einen fairen Deal. Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich an dieser Stelle so viel Kritik entzündet hat. Wie sollten wir es denn anders machen als genau auf diese Weise?

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben Hoffnungen, Fähigkeiten, Potenzial, Kreativität und Ehrgeiz. Und dass sie zu uns kommen, das war weiß Gott nicht so geplant, es war überhaupt nicht geplant. Aber wir können doch jetzt feststellen: Es ist auch eine Riesenchance. Und es ist keine Alternative für Deutschland, diese Menschen auszugrenzen, zu diffamieren, anzugreifen und zu verletzen. Es ist auch keine Alternative für Deutschland, dass wir an dieser Stelle Vorurteile und Ängste schüren. Die einzige Sache, die wir machen müssen, ist Integration, Integration, Integration.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Situation ist sehr gut; denn 70 Prozent derjenigen, die zu uns gekommen sind, sind unter 30 Jahren. Das heißt für mich, dass sie von Leistungsempfängern, die sie vielleicht eine Weile sein werden, ohne Weiteres mit der Hilfe, die wir ihnen hiermit geben, zu Leistungsträgern unserer Gesellschaft werden können, wenn die Integration gelingt. Das ist eine gute Nachricht für unser Land.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir beginnen mit diesem Integrationsgesetz nicht bei null. Wir haben eine ganze Reihe gesetzlicher Veränderungen schnell auf den Weg gebracht, um auf die neue Situation zu reagieren. Als Beispiel nenne ich, dass wir dafür gesorgt haben, dass schon nach drei Monaten, also sehr schnell, ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht. Der Entwurf des Integrationsgesetzes, den Herr de Maizière und ich heute hier vorlegen, geht aber einen Schritt weiter. Er nimmt den ganzen Prozess der Integration in den Blick, hat eine längere Perspektive – nicht Sprint, sondern Langstrecke –, und die werden wir auch brauchen.

Wir stecken Wegmarken für die Flüchtlinge. Das beginnt in der Erstaufnahmeeinrichtung, wo wir für die Menschen, die bisher keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben – sie sind ausgeschlossen von jeder sinnvollen Betätigung, solange sie nicht den entsprechenden Status haben und im SGB-II-Bezug sind –, Arbeitsgelegenheiten schaffen. Ich darf Ihnen versichern, dass es bei diesen Menschen hochwillkommen ist, dass sie sich endlich einbringen können in diese Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielerorts helfen die Flüchtlinge in den Unterkünften, in der Küche oder der Wäscherei. Aber wir wollen, dass sie auch rauskommen, dass sie erste Kontakte mit der Arbeitswelt machen können. In Tübingen beispielsweise helfen sie in der Stadtbücherei oder kümmern sich bei der Feuerwehr um die Autos – das hilft im Übrigen auch den Kommunen –, und nachmittags geht es dann zum Deutschkurs. So kann man lernen und ankommen in dieser Gesellschaft. Deshalb ist das, was wir hier heute auf den Weg bringen, eine wichtige und gute Maßnahme.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich stehe im Übrigen zur Wohnsitzauflage. Auch als Arbeitsministerin stehe ich zur Wohnsitzauflage, um das einmal ganz klar zu sagen; denn Ghettobildungen kann nun wirklich niemand wollen. Aber es gibt Tendenzen in diese Richtung. Man braucht eine Wohnung, aber man braucht auch einen Arbeitsplatz, und das ist nicht dasselbe. Deswegen brauchen wir diese Regulierungen. Deswegen stehe ich in vollem Umfang dazu. Wir haben einen guten Kompromiss gefunden, der beide Aspekte gleichrangig berücksichtigt. Warum nicht? Ich kann Ihnen aus der Erfahrung der BA berichten: Im Siegerland bieten wir Kurse mit 70 Plätzen an, aber über Nacht ziehen die Teilnehmer nach Gelsenkirchen, weil sie da jemanden kennen. Dazu kann ich als Arbeitsministerin nur sagen: Schlechte Entscheidung! Deswegen machen wir die Wohnsitzauflage und passgenaue Angebote, um den Menschen eine Perspektive zu geben. Wer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, der kann selbstverständlich umziehen. Wer woanders einen Ausbildungsplatz hat, kann umziehen. Wir kasernieren die Leute doch nicht, sondern wir wollen ihnen helfen, Arbeit zu finden und nicht nur eine Wohnung, was am Ende des Tages eben nicht reicht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir machen hier einen wirklich substanziellen Fortschritt in Sachen Ausbildung. Es gab bisher eine Regelung, nach der man als Flüchtling bzw. Geduldeter nach dem 21. Lebensjahr nicht in eine Ausbildung gehen durfte. Das ist eine mir nicht ganz verständliche Regel; die gab es aber. Diese Regel haben wir jetzt abgeschafft. Wir schaffen Planungssicherheit für die Betriebe und für die Betroffenen, indem wir ihnen eine Duldung geben für die ganze Zeit der Ausbildung. Danach können sie ein halbes Jahr suchen, und dann bekommen sie für zwei Jahre einen Aufenthaltstitel. Kurzum: Sie können sich hier auf eine Ausbildung einlassen; sie und die Betriebe haben Rechtssicherheit. Das ist der goldene Weg: Diese 70 Prozent derjenigen, die zu uns gekommen sind, die unter 30-Jährigen, sind in Ausbildung zu bringen. Hey, die Leute können wir in diesem Land gut gebrauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe gestern mit Frau Wanka das Spitzentreffen der Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung geleitet. Es gibt 41 000 offene Ausbildungsplätze. Viele Handwerker suchen Auszubildende. – Wunderbar, es gibt Chancen in unserem Land. Lassen Sie uns diese Chancen zusammen ergreifen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich denke, wir haben eine große Aufgabe vor uns, aber wir haben auch viele motivierte Leute, sowohl bei der Bundesagentur für Arbeit als auch bei den einzelnen Anbietern, bei den Volkshochschulen, bei vielen anderen Trägern, die sich wirklich kümmern, und bei den Wohlfahrtsverbänden.

Wir haben diese Situation nicht nur am Anfang erlebt, als so viele kamen, sondern es wird sich weiter mit großer Anstrengung und großer Offenherzigkeit gekümmert und bemüht, und vor diesem Hintergrund bin ich zuversichtlich, dass wir mit diesem Gesetz die Grundlage legen für passende Integration. Dass wir darüber hinaus mehr brauchen, ein Einwanderungsgesetz, steht auf einem anderen Blatt. Das ist auch wichtig, darüber debattieren wir ein anderes Mal.

Heute haben wir das Integrationsgesetz auf dem Tisch. Und in diesem Sinne: Wir wollen es anpacken. Bitte, bitte schauen Sie einfach auch mal in das Gesetz rein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dann wird man nämlich feststellen, dass vieles, was es in der Öffentlichkeit, mit Verlaub, an Diskussionen dazu gegeben hat, haarscharf daneben geht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Empfehlung, in Gesetzestexte reinzugucken, die zur Beratung und Verabschiedung anstehen, empfiehlt sich eigentlich fast immer, dieses Mal aber ganz besonders.

(Heiterkeit – Christine Lambrecht [SPD]: Leider folgt dem nicht jeder! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Weiß das auch Frau Dağdelen?)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6890580
Wahlperiode 18
Sitzung 174
Tagesordnungspunkt Integrationsgesetz
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