03.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 174 / Tagesordnungspunkt 27

Michael BrandCDU/CSU - Qualität der humanitären Hilfe

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir heute bei dieser Debatte ein Anliegen, meine Rede anders zu beginnen und einen Mann zu würdigen, der es verdient hat, der nicht bloß von humanitärer Hilfe gesprochen, sondern konkret geholfen hat, und zwar den Bedürftigsten, denjenigen, die ums nackte Überleben kämpfen mussten.

Er war unabhängig, er war unbequem. Er war auch umstritten, rastlos, oft unkonventionell und kompromisslos, aber immer hatte er den einzelnen Menschen im Blick. Es waren vermutlich gerade diese Eigenschaften, die auch notwendig waren, dass er dort helfen konnte, wo noch niemand oder nie ein Helfer war. Es waren sein Charakter und seine Haltung, die es tatsächlich geschafft haben, den öffentlichen Fokus auf weggeblendete Orte zu werfen und – das ist das Wichtigste – Menschenleben zu retten.

Rupert Neudeck, der vor drei Tagen gestorben ist, war ein humanitärer Kämpfer. Er war ein Kämpfer für die Schwachen, ein kompromissloser Menschenfreund, ein Überzeugungstäter der guten Taten. Ich erinnere mich gut daran, als ich ihn mit Anfang 20 kennenlernte. Ich war damals bei einer Menschenrechtsorganisation in Bosnien-Herzegowina engagiert. Ich lernte ihn in Flüchtlingslagern in Albanien und in Mazedonien kennen. Ich erinnere mich an ein Ereignis. Es muss kurz vor Ostern 1999 in der Grenzstadt Blace in Mazedonien gewesen sein, als Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Kosovo dorthin vertrieben wurden. Der UNHCR hatte gesagt: Wir legen nach Ostern richtig los, weil jetzt die Feiertage sind. Rupert Neudeck stand dort fassungslos im Schlamm und sagte: Das darf alles nicht wahr sein. – Das war gleichzeitig der Antrieb, zu sagen: Wir packen jetzt hier an. Wir können es uns doch nicht ernsthaft leisten, jetzt in Urlaub zu gehen, wenn die Not am größten ist. Rupert Neudeck hat auf konkrete Vorschläge, wenn zum Beispiel, was oft geschieht, gesagt wurde: „Man müsste mal dies tun“ oder: „Man sollte mal jenes tun“, meist geantwortet: Warum fangen wir nicht einfach damit an?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat sich auch in die aktuelle Flüchtlingsdebatte eingemischt, manchmal auch alle politischen Lager überrascht. Das war auch der Fall, als er kürzlich sagte:

Ich möchte nicht, dass Menschen für die Reinheit meines pazifistischen Gewissens sterben.

Auch das hat manche irritiert. Sicher hätte er auch zu der heutigen Debatte manches zu sagen – wahrscheinlich auch manches Kopfschütteln. Lieber Rupert: Für alles, was du getan hast, ein herzliches „Vergelts Gott“!

(Beifall im ganzen Hause)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Humanitäre Weltgipfel war – ich zitiere – „irgendwie doch mehr als Blabla“. So hat das Ereignis ein deutscher Journalist in Istanbul kommentiert. Er hat recht: Man darf den Gipfel nicht überhöhen, aber man darf ihn eben auch nicht kleinreden. Über 170 Staaten und rund 600 NGOs sind dem Ruf des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon in der letzten Woche gefolgt. Auch ich durfte als Vorsitzender des für humanitäre Hilfe zuständigen Bundestagsausschusses der deutschen Delegation angehören.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Der Humanitäre Weltgipfel war eine Premiere. Und: Ja, er war auch bitter nötig. Nie gab es mehr Menschen, die Hilfe zum Überleben brauchen, nämlich 125 Millionen Menschen, davon 60 Millionen, die auf der Flucht sind. Das ist die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts zahlreicher und vor allen Dingen – lieber Herr Koenigs, Sie haben das gesagt – langandauernder Krisen und Katastrophen verzeichnen wir einen stark anwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärer Hilfe.

Beim Umgang mit dieser Katastrophe geht es um nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel. Die Perspektive der humanitären Hilfe muss sich künftig noch viel stärker verändern: von einer rein reaktiven Hilfeleistung nach einer Krise zu einem vorausschauenden Handeln zur Vermeidung von Krisen. Wir begrüßen sehr, dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getan hat, um sich auf diese Zäsur einzustellen. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat in dieser Wahlperiode vielfache Initiativen ergriffen – in öffentlichen Anhörungen und Expertengesprächen, national und international –, zu den Qualitätsstandards für die humanitäre Hilfe und auch jetzt zum Humanitären Weltgipfel und seinen Folgen.

Dass Deutschland in Istanbul mit der Bundeskanzlerin, dem Außenminister und dem Entwicklungsminister hochrangig vertreten war, unterstreicht, dass die Dringlichkeit der Herausforderungen jedenfalls dort inzwischen angekommen ist. Dass aber die erste Reihe der anderen europäischen Regierungen durch Abwesenheit geglänzt hat – und das, obwohl wir in Europa eigentlich alle gemeinsam das größte Interesse haben sollten, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen –, genauso wie die Vetomächte, kann ich nur als kurzsichtig und ignorant bezeichnen.

Die Initiative für diesen Gipfel war und ist richtig, weil er bereits in der Vorbereitung einen dringend notwendigen Prozess der Veränderung in einer sich dynamisch verändernden Welt angestoßen hat.

Gelöst ist nichts. Umso mehr kommt es jetzt, nach Istanbul, darauf an, gemeinsam konkrete Schritt umzusetzen. VENRO, der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen, hat recht: Das humanitäre System ist in seiner derzeitigen Struktur den gewaltigen Herausforderungen nicht gewachsen. Es ist unterfinanziert, agiert zu schwerfällig und zentralisiert. Wir brauchen deshalb – da stimme ich mit dem Kollegen Koenigs wieder überein – eine stärkere Dezentralisierung und Lokalisierung humanitärer Hilfe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was muss eigentlich noch passieren, dass nach großspurigen Ankündigungen auf internationalen Geberkonferenzen das zugesagte Geld auch dort ankommt, wo es am nötigsten gebraucht wird? Ich glaube, der Humanitäre Weltgipfel muss als Ausgangspunkt für eine konkrete und umfassende Reform des humanitären Systems genutzt werden. Wir alle müssen die Krise zum Wendepunkt machen und sie auch als Chance sehen, die Ursachen nicht länger und konsequent zu ignorieren.

Niemand sollte sich einbilden, dass sich die Krisen von allein erledigen, dass man sie aussitzen könnte und es möglich wäre, so weiterzumachen wie bisher. Dass es so weit kommen konnte, zeigt auch, wo die Versäumnisse liegen. Jeder erinnert sich an den Dezember 2014 – der frühere UN-Flüchtlingskommissar Guterres hat es ja erwähnt –: Die Einstellung des World-Food-Programms für 1,7 Millionen Flüchtlinge war der eigentliche Auslöser für die Fluchtwelle. Wahr ist doch: Massenhaft Chancen, gnadenlos vergeigt! Viel zu lange haben wir alle akzeptiert, dass man Fakten einfach ignoriert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand sollte heute – das ist eine andere Seite – unterschätzen, wie groß auch die Chancen sind, etwas zu bewirken, wenn diese Ursachen für Armut, Perspektivlosigkeit und Flucht aktiv, rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln bekämpft werden. Der globale Bildungsfonds für Kinderflüchtlinge ist ein wichtiger Start. Eine verlorene Generation dürfen wir einfach nicht akzeptieren. Das hieße, sich an den jungen Menschen zu versündigen. Auch das wird eine Riesenherausforderung werden.

Wir dürfen die Augen vor den Realitäten nicht verschließen, und wir müssen nach Istanbul zäh, aber auch mit Tempo für Veränderungen arbeiten. Ich nenne hier nur drei Punkte:

Erstens. Es braucht mehr Geld, eine bessere Organisation, Qualität und Effizienz.

Zweitens. Wir müssen raus aus dem permanenten Krisenmodus und zu einer vorausschauenden Hilfe kommen, die auch neue Akteure, wie die Privatwirtschaft, einbindet.

Drittens. Gerade diejenigen, die die Hilfe am nötigsten brauchen, erreicht sie oftmals nicht – ich denke an die Menschen in Syrien, im Jemen und im Südsudan –, weil es keinen sicheren Zugang gibt. Das darf bei aller Gipfelrhetorik nicht verdrängt werden.

Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, Christos Stylianides, hat mir gestern im Gespräch hier im Deutschen Bundestag gesagt, dass es in Istanbul über 1 000 Selbstverpflichtungen gegeben hat. Versprochen wurde in der Vergangenheit genug. Jetzt ist endlich Umsetzung angesagt. Auch deshalb wäre es richtig und notwendig, dass es einen Überprüfungsmechanismus gibt, zum Beispiel ein internationales Monitoring-System mit Berichtspflichten. Auch das ist für mich eine Konsequenz aus diesem Gipfel in Istanbul. Jeder muss erfahren, wer seine Zusagen eben nicht eingehalten und gebrochen hat, und jeder muss es wissen, wenn außer Worten nichts geblieben ist und die nächste Katastrophe mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn aus Worten Taten werden, dann wird der Humanitäre Weltgipfel ein großer Erfolg. Um es mit Rupert Neudeck zu sagen: Warum fangen wir nicht einfach damit an?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Kollege Frank Schwabe spricht als Nächster für die SPD.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


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Electoral Period 18
Session 174
Agenda Item Qualität der humanitären Hilfe
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