Matthias SchmidtSPD - Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Korte, es gibt viele gute Argumente für die Einführung von Elementen der direkten Demokratie, aber in Ihrer Rede haben Sie kein einziges benannt.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)
Ich verstehe Ihre Beispiele in diesem Zusammenhang überhaupt nicht: Steckdosen haben Sie als Synonym für Demokratie angeführt, etwa bei der Frage, ob nun eine oder vier Steckdosen in der Schule vorhanden sein sollen. In Ihrem Beispiel war das Geld sogar vorhanden. Das sind doch keine Sachverhalte, die durch direkte Demokratie geklärt werden müssten.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wenn Sie darüber nachdenken würden, würden Sie das verstehen!)
Weiterhin haben Sie als Beispiel den Mindestlohn genannt, der nach Ihrer Aussage erst nach zehn Jahren Debatte eingeführt worden sei. Ja, aber Sie als Parlamentarier müssten doch wissen: Demokratie ist langsam, aber sie ist ausgewogen.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Manchmal geht es aber auch ganz schnell: Bei Hartz IV waren Sie ganz schnell!)
In der Demokratie werden viele Argumente miteinbezogen, und dann kommt man zu einer sachgerechten Entscheidung. Es ist eine Illusion, zu glauben: Wenn wir direkte Demokratie hätten, dann würden alle Entscheidungen über Nacht getroffen – ich glaube, Sie haben gesagt: am nächsten Tag ist die Entscheidung da –, aber das stimmt doch gar nicht. Das wäre auch nicht sachgerecht. Es ist nicht erstrebenswert.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegin Wawzyniak hat doch gerade erklärt, worum es geht!)
Die Demokratie ist das Beste, was sich die Menschheit in den letzten zweieinhalbtausend Jahren hat einfallen lassen, um das Gemeinwohl zu organisieren.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Auch der erste Satz im Antrag der Linken ist völlig richtig:
Die parlamentarische Demokratie hat sich über viele Jahre bewährt.
Zur parlamentarischen Demokratie gehört der Austausch der Argumente, gehört der Streit, aber dazu gehört auch die Fähigkeit zum Kompromiss. Die parlamentarische Demokratie wirkt wie eine Lupe, durch die man die unterschiedlichen Argumente sehr klar erkennen kann. Das war im Parlament bei Adenauers Westintegration so – damals heiß umstritten, heute natürlich unbestritten –, und das war bei Brandts Ostpolitik – mindestens genauso heiß umkämpft, aber heute unbestritten – so. Beides zusammen – Westintegration und Ostpolitik – haben überhaupt die Grundlagen für die deutsche Einheit gelegt.
Auch Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen werden irgendwann von der Geschichte bewertet. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass es dazu sehr positive Stellungnahmen gibt. Aber wir wollen heute nicht über Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen reden, sondern wir reden über den Antrag „Demokratie für alle“ von den Linken. Ich finde, die Kanone, die Sie da ausgepackt haben, ist ein bisschen zu groß für die Spatzen, auf die Sie schießen.
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kriegsrhetorik!)
Die Demokratie an sich ist in einem sehr guten Zustand. Die Überschrift Ihres Antrags insinuiert ja, es würden nicht alle an der Demokratie teilnehmen können. Das ist so nicht wahr.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt viele, die nicht mehr teilnehmen wollen!)
Die Demokratie bundesrepublikanischer Ausprägung ist seit vielen Jahren ein Mitmachangebot für alle Bürgerinnen und Bürger.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte von den Linken?
Ich habe damit gerechnet, und ich gestatte sie gerne.
Bitte schön, Herr Kollege Korte.
Meinen Sie allen Ernstes, dass der Zustand der Demokratie im Moment gut ist? Deuten nach Ihrer Kenntnis alle empirischen Untersuchungen auf eine absolute Zustimmung zum parlamentarisch-demokratischen System hin? – Das ist meine erste Frage.
Bei meiner zweiten Frage geht es um etwas, was mich wirklich erschreckt hat. Sie sind ja Sozialdemokrat. Ich komme aus einer sozialdemokratischen Familie, in der immer parteiliche Bildung stattfand, zum Beispiel über die Grundlagen des demokratischen Sozialismus. Um es einmal klassisch auszudrücken: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Übersetzt heißt das, dass ich, wenn ich in ökonomischer Hinsicht gut abgesichert bin und eine bestimmte Bildung habe, wenn ich also über ein gutes Einkommen und ein gutes Leben verfüge, auch mehr demokratische Freiheitsrechte wahrnehme. Ich habe versucht, das am Beispiel Hamburg deutlich zu machen. Sehen Sie als Sozialdemokrat keinen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage auf der einen Seite und dem demokratischen Alltagsengagement auf der anderen Seite?
(Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank, Herr Kollege Korte. – Ich habe es schon gesagt: Ich finde den Zustand der Demokratie insgesamt gut. Gleichwohl gibt es immer Dinge, die verbessert werden müssen, die verbessert werden können. Dafür braucht es den demokratischen Wettstreit, dafür braucht es Argumente, und dafür braucht es am Ende Entscheidungen. Selbstverständlich gibt es – Sie haben die Bildungspolitik angesprochen – immer etwas zu tun. Wenn dem nicht so wäre, bräuchte es gar keinen Bundestag. Dann hätten wir keine Existenzberechtigung. Also: Wir brauchen die Demokratie in dem Zustand, in dem sie ist; wir brauchen das Mitmachangebot der Demokratie, damit sich jeder beteiligen kann. Dieses Mitmachangebot – ich will das ausdrücklich sagen – beschränkt sich nicht auf Wahlen und Abstimmungen. Teilhabe an der Demokratie ist in vielen Bereichen möglich, und sie wird in vielen Bereichen genutzt. Ich halte das für ein gesundes System, das man an verschiedenen Stellen immer ergänzen und verbessern kann, zum Beispiel auch durch Elemente der direkten Demokratie, das aber im Grundsatz gut funktioniert und unser Allgemeinwesen ordentlich organisiert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Ich hatte es gesagt: Ein Wesenselement der Demokratie ist der offene und ehrliche Streit um Argumente, verbunden mit der Fähigkeit und dem Willen zum Kompromiss. Damit gehen zwei entscheidende Fragen einher, die heute zur Diskussion stehen: Erstens. Wer soll streiten, diskutieren und argumentieren? Zweitens. Wer darf und soll entscheiden?
Ich glaube, wir sind uns bei der Beantwortung der ersten Frage über alle Parteigrenzen hinweg einig: In einer lebhaften Demokratie sollen grundsätzlich alle streiten; mir ist das wichtig. Jeder Bürger und jede Bürgerin soll sich zu aktuellen politischen Fragen eine Meinung bilden können und diese vertreten können. Sie müssen ihre Meinung nicht vertreten, aber sie müssen sie vertreten können. Der viel zitierte Ausspruch von der Demokratie ohne Demokraten, den wir aus der Weimarer Republik kennen, zeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen aktiv an der Demokratie teilnehmen. Heute nennt man das Partizipation oder Teilhabe. Wir messen die aktive Teilhabe oftmals nur mit einem einzigen Parameter, der Wahlbeteiligung. Wir haben uns in Deutschland aus guten Gründen entschieden, keine Wahlpflicht einzuführen. Also gibt es auch keine Pflicht, sich einzumischen; aber wünschenswert ist Einmischung schon, und zwar auf allen Ebenen und nicht nur bei Wahlen.
Schwieriger wird es bei der zweiten Frage. Wer darf entscheiden? Dazu sagen die Verfechter der reinen parlamentarischen Demokratie: Nur die gewählten Volksvertreter sollen Entscheidungen treffen können. – Ich will ein Beispiel jenseits des Parlaments nennen. Ich nehme ein Beispiel aus dem Alltag. Demokratie gibt es ja an vielen Stellen. Thema Familienurlaub: Der Sommerurlaub steht an. Die Familie will entscheiden, wo es hingehen soll. Die Eltern rufen ausdrücklich die Kinder auf, mitzuentscheiden. Die Kinder setzen sich zusammen und machen sich Gedanken über den Urlaub. Sie wollen natürlich Sonne, sie wollen Strand, sie wollen das Meer; aber sie wollen auf keinen Fall lange fahren. Also kommen die Kinder zu der sachgerechten Erkenntnis und bringen das in den Familienrat ein: Erstwunsch Ostsee, Zweitwunsch Nordsee, Drittwunsch Gardasee. – Dann kommt nach einem langen Entscheidungsprozess der Papa und sagt: Die Entscheidung ist gefallen. Wir fahren zum Wandern in die Alpen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Super!)
Das führt in dieser Familie zu keiner großen Freude. Das führt auch nicht dazu, dass die Kinder in den nächsten Jahren sehr engagiert in der Familie mit debattieren wollen.
Das Beispiel hinkt, ich weiß; aber ein kleines bisschen machen wir das als Bundestag ebenso, indem wir sagen: Ja, alle Menschen sollen sich beteiligen, alle sollen sich einbringen und mit argumentieren; aber die Entscheidung treffen wir hier alleine. Darum sind wir als SPD schon lange der Meinung, dass wir Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene einführen sollten, allerdings nur als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie, die sich sehr bewährt hat. Das hatten wir auch in unserem Wahlprogramm verankert; Kollege Castellucci ist darauf eingegangen. Leider ist es uns bislang nicht gelungen, den Koalitionspartner dafür zu gewinnen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht mal die Koalition wechseln!)
Aber Koalitionen leben von der Fähigkeit zum Kompromiss, und, ja, das ist zuweilen auch schmerzhaft.
Wenn wir an dieser Stelle eine Verfassungsänderung vornehmen, sollten zwei andere Punkte mit geregelt werden. Ich meine, wir sollten die Wahlperiode auf fünf Jahre verlängern, wie es fast alle Landesparlamente getan haben.
(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!)
Es bleibt noch eine zweite Fünf, von der ich meine, dass wir sie dringend im Bundestag regeln sollten. Das ist die Festschreibung der Fünfprozenthürde im Grundgesetz.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nee, nee, nee!)
Ich wäre sozusagen für die Doppelfünf und hielte das für sehr erstrebenswert.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das finden die Linken auch toll!)
Frau Präsidentin, ich merke, das mit meiner Zeit wird eine knappe Geschichte. Ich werde also versuchen, direkt zum Schluss zu kommen.
Bei genauerer Betrachtung ist erkennbar: Das Thema „direkte Demokratie“ ist sehr komplex und braucht eine Antwort, die dem auch gerecht wird. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger stärker beteiligen – lassen Sie mich das ruhig ausdrücklich betonen –, und wir begrüßen den Wunsch vieler Menschen, sich direkter und stärker einzubringen. Das ist ganz im Sinne der Forderung, dass die Demokratie engagierte Demokratinnen und Demokraten braucht. Das kann uns als Gesellschaft nur stärken. Auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, diese Haltung beim Koalitionspartner durchzusetzen: Wir bleiben dran.
Ich danke Ihnen recht herzlich für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank. Das war zwar ein langer Schluss, aber ausnahmsweise! – Nächste Rednerin ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6907799 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 176 |
Tagesordnungspunkt | Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid |