09.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 176 / Tagesordnungspunkt 5

Rainer SpieringSPD - Berufliche Bildung

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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Bei aller Kritik gilt: Das Berufsbildungssystem in Deutschland ist das erfolgreichste und beste der Welt. Ihm eine Bankrotterklärung auszustellen, halte ich für sachlich falsch. Ich finde, wir sollten bei diesem wichtigen Thema verbal ein bisschen abrüsten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das System ist beweglich. Es ist zeitangepasst, veränderungswillig und atmend. Es tut dem Wirtschafts- und Sozialsystem in Deutschland gut. Frau Hein, ich kenne Ihre Neigung, unser Berufsbildungssystem so zu beschreiben, wie Sie das eben gemacht haben. Ich sage ganz deutlich: Auf den zentralistischen sozialistischen Ansatzes, das Berufsbildungssystem so zu verändern, würde ich gerne verzichten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Berufsausbildung ist nachhaltige Standortzukunftspolitik, ist vor allen Dingen Arbeitsmarktpolitik, und so sollten wir das sehen. Auch der Arbeitsmarkt ist atmend. Weil es ein atmendes System ist, braucht es auch ein atmendes Gesetz. Das Berufsbildungsgesetz ist immer wieder verändert und der Zeit angepasst worden, weil sich unsere Berufsausbildungen auch ständig verändern. Hierzu steht im Berufsbildungsbericht 2016:

Das BMBF hat 2015 ... das Berufsbildungsgesetz unter Beteiligung der relevanten Berufsbildungsakteure und des Deutschen Bundestages evaluiert und prüft zurzeit gesetzliche Anpassungsnotwendigkeiten.

Gut so! Wir sollten geistiger Motor und Antreiber sein.

Ich möchte vier Punkte nennen, über die wir, finde ich, gut diskutieren könnten. Es geht um relativ einfache Veränderungen des Berufsbildungsgesetzes. Ich glaube, dass sie allen Beteiligten guttun würden.

Wir haben einen Passus im Berufsbildungsgesetz, nach dem bei der Schulzeit zwischen unter 18-Jährigen und über 18-Jährigen unterschieden wird. Das ist nicht mehr zeitgemäß, weil viele unter 18 und sehr viele über 18 ins Berufsleben eintreten. Da im Berufsbildungsgesetz einen Unterschied zu machen, halte ich sachlich und fachlich für falsch. Das tut der Ausbildung nicht gut.

(Beifall bei der SPD)

Der nächste Punkt. Berufsbildung und vor allen Dingen die Prüfungen sind – ich glaube, da sind wir uns alle einig – in hohem Maße vom Ehrenamt abhängig. Willi Brase hat immer wieder auf die besondere Bedeutung des Ehrenamts hingewiesen, und er hat natürlich recht. Jetzt stellen wir uns einmal einen Handwerksmeister vor, der in einer guten konjunkturellen Situation seine besten Leute für die Prüfung abstellen muss. Er gerät in eine Bredouille. Ich kann eigentlich nicht einsehen, warum wir die Möglichkeiten des Berufsbildungsgesetzes nicht nutzen, um das Ehrenamt an zwei Stellen zu unterstützen: einmal, indem wir die Kosten, die entstehen, den entsprechenden Kammern zuordnen – das können die über die Prüfungskosten gut leisten – und zum anderen, indem wir festlegen, wie die Freistellung rechtlich abzulaufen hat. Das können wir im Einvernehmen wunderbar machen und ein Signal nach Deutschland hinausschicken: Uns ist das Ehrenamt wichtig, und Prüfungen im Rahmen der Berufsbildung sind ohne Ehrenamt nicht möglich. – Deswegen würde ich das gern anpacken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Der letzte Punkt; das ist mein persönliches Anliegen. Es gibt ungefähr 50 000 junge Menschen, die in eine zweijährige Berufsausbildung eingestiegen sind. Das hat vielfältige Gründe. Im Übrigen sehe ich die zweijährige Ausbildung durchaus als große Chance für Menschen, die zu uns kommen. Wir führen aber auch eine sehr erbitterte Rentendebatte und wissen, dass die Menschen, die zu schlechten Tariflöhnen einsteigen, in Zukunft bei der Rente noch viel schlechter wegkommen. Wer eine zweijährige Ausbildung absolviert, liegt tarifmäßig ganz weit unten. Ich würde diesen jungen Menschen wirklich nicht die Chance verbauen, auf Dauer gutes Geld zu verdienen und auch eine gute Rente zu bekommen. Insofern kann ich nur dringend dazu raten, das Berufsbildungsgesetz derart zu verändern, dass man nach einer zweijährigen Ausbildung auch eine dreieinhalbjährige Ausbildung bekommen kann.

(Beifall bei der SPD)

Das sind drei Punkte, von denen ich mir sehr gut vorstellen könnte, dass wir sie anpacken und im Berufsbildungsgesetz verändern.

Lassen Sie mich jetzt – Thomas, danke für den Hinweis – zur zweiten Säule der Berufsbildung kommen, der Berufsschule. Was mich ein bisschen wundert, ist, dass es uns nicht gelingt, den Fokus so auf die Berufsschule zu lenken, wie es sich eigentlich gehörte. Die Berufsschule ist die größte eigenständige Schulform, die wir in Deutschland haben, es ist mit die innovativste, die wir haben, und es ist mit die leistungsstärkste, die wir haben. An fast allen berufsbildenden Schulen gibt es auch die Möglichkeit, unterschiedliche Qualifikationen und Abschlüsse zu erreichen.

Man findet übrigens im Berufsbildungsbericht, dass ein Großteil derer, die sich im Übergangssystem befinden, über die Berufsschulen geführt wird. Aber sie werden im Berufsbildungsbericht nur genau an dieser Stelle aufgeführt. Ich bedaure das. Warum wird nicht die Berufsschule mit der Leistungsfähigkeit dargestellt, die sie hat? Insofern kann ich hier nur an das Hohe Haus appellieren: Lassen Sie uns auf die Berufsschule den Fokus legen, der ihr gebührt. Das würde nämlich bedeuten, dass auch alle, die in ein schulisches System eintreten und Berufsschulangebote wahrnehmen, einen anderen Fokus darauf legen. Und wenn sie einen anderen Fokus darauf legen, dann nehmen sie auch die Möglichkeiten der Berufsbildung ganz anders wahr.

Wir, die SPD, haben in einem Positionspapier die Möglichkeiten, die wir haben, aber auch die Aufgaben, die wir haben, beschrieben. Ich habe es an dieser Stelle schon mehrfacht gesagt: Lassen Sie uns die universitäre Lehrerausbildung massiv stärken. Mittlerweile bekommen wir deutliche Rückmeldungen, die sagen: Ja, wir können uns um das Handwerkszeug der universitären Lehrerausbildung im Bereich Methodik/Didaktik ernsthaft und deutlich mehr kümmern, aber dann brauchen wir Geldmittel dafür.

(Beifall bei der SPD)

Lieber Thomas, das Berufsbildungsnetz Berufsschule ist eine deutsche Angelegenheit. Ich glaube, dass man es sich zu einfach macht, wenn man den Ländern sagt: Wir wollen das. Seht mal zu, dass ihr damit klarkommt. – Ich finde das nicht richtig. Ich glaube, das ist eine bundesweite Angelegenheit, die wir bundesweit regeln müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn wir über Industrie 4.0 und Deutschland sprechen, dann wissen wir, dass wir diesbezüglich vor unglaublichen Herausforderungen stehen. Ich glaube, dass die kreisfreien Städte, die Kreise als Träger der berufsbildenden Schulen überfordert sind. Es gibt Regionen in Deutschland, die das können, aber es gibt in Deutschland auch Regionen, die das nicht können. Deshalb muss der Gesetzgeber, nämlich das deutsche Parlament, dafür Sorge tragen, dass diese Benachteiligung, die es übrigens nach dem Grundgesetz gar nicht geben darf, ausgeglichen wird. Lassen Sie uns also im gemeinsamen Interesse Geld in die Hand nehmen, um die technische und zukunftsorientierte Ausstattung von Berufsschulen massiv zu stärken. Auch das finden Sie in unserem Positionspapier.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich zum Ende kommen. Berufsschule ist ein Innovationsaggregat, ein integratives System und die größte eigenständige Schulform. Wir haben viele Einflussmöglichkeiten, weil Schule Staat oder Staat Schule ist. Es ist ein offenes Schulsystem. Die beruflichen Abschlüsse sind weltweit anerkannt. Wer die Berufsschule stärkt, stärkt den Standort Deutschland und sichert unsere Zukunft.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6907916
Wahlperiode 18
Sitzung 176
Tagesordnungspunkt Berufliche Bildung
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