09.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 176 / Tagesordnungspunkt 5

Ulla Schmidt - Berufliche Bildung

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema, über das wir sprechen, ist natürlich volkswirtschaftlich wichtig: Fachkräfte, Fachkräftemangel. Alles klar! Aber ganz entscheidend ist – das sage ich jetzt auch in Richtung der jungen Leute, die heute hier sind und zuhören –: Es ist für den einzelnen Jugendlichen eine Riesenchance und es ist – das klingt jetzt vielleicht pathetisch – für sein Lebensglück entscheidend, dass er eine Ausbildung macht. Das sichert ihm zu, dass er über viele Jahre die Chance hat, in Arbeit zu sein, selbstbestimmt zu leben. Deswegen, meine Damen und Herren, ist das für uns hier in diesem Raum ein ganz zentrales Thema.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Im Berufsbildungsbericht steht: 41 000 unbesetzte Ausbildungsstellen. Sie stehen zur Verfügung; sie warten auf junge Leute, die Lust und Interesse haben. Ich muss angesichts dieser Stellen einen dezidierten Dank an die Wirtschaft richten – auch wenn das manche hier vielleicht nicht gerne hören. Man muss sich einmal vor Augen führen: Von 2006 bis jetzt ist die Zahl der Schulabgänger ohne Hochschulreife, das heißt, das Hauptklientel für die duale Ausbildung, um 22 Prozent gesunken; es sind Tausende weniger. In derselben Zeit ist die Zahl der Ausbildungsplätze um nur 9 Prozent gesunken. Das heißt, die Wirtschaft hat weit über das hinaus, was sie normalerweise macht, Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt.

Klar gibt es in der Allianz für Aus- und Weiterbildung das Versprechen der Wirtschaftsseite: Wir stellen 20 000 Ausbildungsplätze mehr zur Verfügung. – Das ist im letzten Jahr noch nicht geschafft worden. Die neuen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, die Sie alle einsehen können, die öffentlich zur Verfügung stehen, zeigen, dass jetzt im Mai im Vergleich zum Mai des vorletzten Jahres 18 000 mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, sodass wir davon ausgehen, dass es in die richtige Richtung geht. Aber im letzten Jahr ist die Zahl von 20 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen noch nicht erreicht worden.

Ein weiterer Punkt: Flüchtlinge. Sie von den Grünen haben mal einen Vorschlag gemacht, den ich ganz erstaunlich fand, weil er so ähnlich war, wie wir es uns vorgestellt haben.

(Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)

– Er war keine Anregung; wir waren schon weiter. – Wir haben ein Programm geschaffen, um Flüchtlinge im Rahmen der Berufsorientierung ins Handwerk, in eine handwerkliche Ausbildung zu bringen. Wir fördern bis zu 10 000 Teilnehmerplätze. Anträge waren seit dem 20. April möglich, und schon nach einem Monat wurden 9 000 Plätze angeboten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich haben wir Probleme. Die 41 000 unbesetzten Ausbildungsplätze haben natürlich schlimme Auswirkungen auf die Betriebe, in denen nun der Nachwuchs fehlt. Aber es ist kein lächerliches Passungsproblem, es ist ein grundlegendes Problem. Ich will hier einige Punkte nennen.

Wir haben gravierende regionale Unterschiede. Wir haben Bereiche im Süden Deutschlands, in denen die jungen Leute nach Ausbildungsplätzen suchen müssen, und wir haben zum Beispiel das wunderschöne Mecklenburg-Vorpommern und andere Bereiche, in denen die Betriebe keine Auszubildenden finden. Da gibt es beispielsweise den Malermeister, der jahrelang keinen Auszubildenden findet. Das heißt, hier gibt es regionale Unterschiede.

Als wir mit dem Hochschulpakt begonnen haben, wollte kaum jemand aus Saarbrücken nach Frankfurt/Oder oder so. Nun ist es uns gelungen, das bestens zu regeln. Nun haben wir dort einen Anteil an Studenten aus den alten Bundesländern von 30 bis 40 Prozent.

Mobilität ist für diejenigen in der beruflichen Ausbildung ganz wichtig. Natürlich muss man das anschieben, das passiert nicht von selbst, das macht auch nicht der einzelne Handwerksmeister. Deswegen haben wir mit „Jobstarter“ einen Versuch initiiert, um Mobilität zu fördern; denn die Mobilität ist bei 16-Jährigen anders als bei Studenten, die schon über 20 Jahre alt sind.

Wenn man sich anschaut, wer nicht ausbildet, dann stellt man fest: Es sind vor allem die kleinen Betriebe; darauf haben wir jahrelang hingewiesen. Wir haben jetzt überlegt: Was kann man konkret machen? Wir haben eine Förderlinie, um die kleinen Betriebe wieder zu motivieren und zu unterstützen. Es können zum Beispiel drei Betriebe gemeinsam ausbilden, weil kleine Betriebe nicht alle Bereiche vorhalten können. Zum Teil wird durch geschickte Werbung für attraktive Ausbildungsberufe geworben, die kaum einer kennt. Das läuft. Das ist nichts, was man fördern muss. Wie groß die Erfolge und Effekte sind, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Auf jeden Fall ist es ein Punkt, der uns wichtig ist.

Beim Passungsproblem ist das Entscheidendste, dass man präventiv und individuell berät. Ein Element, das wir über Jahre getestet haben, waren die Bildungsketten, diese individuelle, präventive Unterstützung. Dazu gab es viele Versuche. Jetzt stellen wir – wir, das sind Frau Nahles und ich – über 1 Milliarde Euro zur Verfügung, und zwar flächendeckend. Aber wir handeln nicht alleine, sondern gemeinsam mit den Ländern. Ich habe jedem Landeskultusminister geschrieben und gefragt: Wir haben diese oder jene Möglichkeiten. Was wollt ihr in eurem Land? – Wir unterstützen, dass alle von den Bildungsketten, also Beratung in der 7./8. Klasse, profitieren. Aber die Beratung sollte allen angeboten werden. Wir möchten gerne, dass die Beratung auch im Gymnasium stattfindet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt eine Reihe von Landesministern oder Ministerpräsidenten, die entsprechende Vereinbarungen mit mir, mit Frau Nahles und mit der BA unterschrieben haben, zum Beispiel Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz. Da geht es nicht um Klein-Klein, sondern um ein flächendeckendes Instrument, das gut wirkt. Das ist kein kleines Problem, das ist auch finanziell kein kleines Problem.

Zum Übergangssystem. Frau Hein, ich schätze, dass Sie die Vorlagen lesen und wirklich kundig sind. Umso verwunderter bin ich, wenn Sie Dinge sagen, die Sie eigentlich, weil Sie die Vorlagen lesen, besser wissen müssten und auch wissen. Um es einmal klarzustellen: Das Übergangssystem ist keine Wartehalle, in der die Jugendlichen einfach rumsitzen, kein Abschiebebahnhof. Im Übergangssystem sind zum Beispiel alle diejenigen, die Erzieherinnen oder Erzieher werden wollen und ihr Pflichtpraktikum machen. Sie zählen zum Übergangssystem. Das sind doch keine Abgeschobenen, sondern sie bekommen eine Chance; denn sie brauchen das Pflichtpraktikum, um Erzieherin zu werden. Ansonsten ist die Intention des Übergangssystems, dass man Chancen eröffnet, dass die, die in der Schule vielleicht keine Lust hatten, zu lernen, nun die Möglichkeit haben, dazuzulernen, spezielle Qualifikationen zu erwerben.

30 Prozent all jener, die im Übergangssystem sind, haben nach einer BIBB-Studie in den letzten Jahren ihren Schulabschluss entweder nachgeholt oder verbessert. Das ist der Sinn des Übergangssystems. Natürlich war das Übergangssystem über Jahre hinweg eine Wartehalle, aber davon sind wir inzwischen weit entfernt. Früher waren 420 000 junge Menschen im Übergangssystem, jetzt sind es 270 000. Das sollten Sie nicht diskreditieren. Vielmehr ist das eine Chance, und wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen in dieses Übergangssystem kommen, die es wirklich brauchen, damit sie die Chance auf eine Ausbildung haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was die Jugendlichen mit Behinderung betrifft: Es gilt das, was im Bildungsbericht zum Thema Inklusion gesagt wurde. Es wurde eingeschätzt: Wo stehen wir in Deutschland? Was sollten wir machen? In Bezug auf manche Bildungswissenschaftler war ich skeptisch. Aber dann habe ich festgestellt, dass sie sehr behutsame Empfehlungen ausgesprochen haben. Sie haben uns eine Warnung ins Stammbuch geschrieben: Wir sollten nicht in die USA gucken und sagen: Wir müssen das so und so machen. Vielmehr sollten wir in unserem gewachsenen System schauen: Was müssen wir machen, um Inklusion zu realisieren?

Wir haben das BIBB beauftragt, Ausbildungsbausteine zu entwickeln; bei den Ausbildungsbausteinen, die Sie genannt haben, sind wir jetzt bei 22. Wir bieten jenen Fachpraktikerausbildungen an, die nicht sofort einen normalen Ausbildungsplatz ausfüllen können. Aber diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Ausbildung aufgrund der Art und Schwere der Behinderung wirklich nicht erfüllen, für die haben wir in Deutschland etwas Spezielles, und das sind die Geschützten Werkstätten. Auch wenn es diese nirgendwo sonst auf der Welt gibt: Wir als reiche Nation müssen das auch weiterhin für die jungen Menschen vorhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich geht es bei dem ganzen Thema um Professionalisierung, auch um Weiterbildung.

Bezüglich des Bereichs der Berufsschullehrer bin ich ganz entschieden Ihrer Meinung, Herr Spiering. In diesen Studiengängen sind an den Hochschulen immer Plätze frei, weil das gar nicht so viele studieren wollen. Deswegen haben wir gehofft und entsprechend motiviert, dass im Zusammenhang mit dem Qualitätspakt Lehre insbesondere im Bereich der Berufsschullehrer viele Projekte entstehen. So ist es aber nicht gekommen. Es gibt zwar einige Projekte, aber nicht so viele, wie wir gehofft haben.

Was den Bereich Inklusion betrifft, haben wir im März eine Forschungsförderlinie gestartet, weil in diesem Bereich viel Forschungsbedarf besteht; das wird von allen Wissenschaftlern zugestanden. Wie macht man Inklusion richtig? Man kann da vieles falsch machen. Ich erinnere an die Sprachbildung vor dem Schuleintritt. Alle haben Geld dafür ausgegeben, die Effekte waren aber gering. Man muss forschen, damit man es richtig machen kann. Im März haben wir ein großes Forschungsprogramm zur Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte für inklusive Bildung ausgeschrieben, und zwar bezogen auf alle Bildungsbereiche. Das ist eine ganz konkrete Leistung unseres Hauses.

Ich denke, wenn man einigermaßen fair ist, muss man nicht nur sagen, dass wir in Deutschland mit der dualen Ausbildung ein besonderes System haben, um das wir beneidet werden, sondern man muss auch sagen, dass wir Probleme haben, dass manche Probleme in den letzten Jahren sogar zugenommen haben und es schwierig wird, die jungen Flüchtlinge in dieses Ausbildungssystem hineinzubekommen; denn wir wollen nicht, dass sie eine Ausbildung dritter Klasse erhalten – das würde sie lebenslang prägen –, sondern wir wollen, dass sie wirklich in diese Gesellschaft integriert werden, und Integration funktioniert insbesondere über Arbeit und damit über eine ordentliche Ausbildung. Das sind die Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, die wir angehen. Meine Damen und Herren, man kann aber auch einmal sagen: Wir haben eine Menge erreicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank. – Die Kollegin Rosemarie Hein hat um die Möglichkeit zu einer Kurzintervention gebeten.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6907971
Wahlperiode 18
Sitzung 176
Tagesordnungspunkt Berufliche Bildung
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