Gregor GysiDIE LINKE - Vereinbarte Debatte zum 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zwei kritische Bemerkungen zum politischen Umgang mit dem 75. Jahrestag des Überfalls von Nazideutschland auf die Sowjetunion:
Die erste Anmerkung. Die deutsch-sowjetischen und danach die deutsch-russischen Beziehungen durchliefen gute, weniger gute und auch schlechte Phasen. Aber völlig unabhängig davon bleibt diese vertrags- und völkerrechtswidrige Aggression, die 27 Millionen sowjetischer Opfer zur Folge hatte. Diese Opfer – der größte Teil waren Russinnen und Russen; das Ganze traf aber auch sehr viele Weißrussinnen und Weißrussen, Ukrainerinnen und Ukrainer – verlangen einen würdigen Rahmen des Gedenkens.
(Beifall bei der LINKEN)
Ohne die Linksfraktion hätte es hier auch nicht die vereinbarte Debatte gegeben.
(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist jetzt sehr würdig!)
Unter den 27 Millionen Opfern waren 8,4 Millionen gefallene Soldaten, 3,3 Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommene oder ermordete Soldaten und über 15 Millionen sowjetische Zivilistinnen und Zivilisten, darunter Millionen Jüdinnen und Juden, die erschossen, ermordet wurden. Auf deutscher Seite fielen 2,7 Millionen Soldaten, und 1,1 Millionen Soldaten kamen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft um; sie starben an Hunger, an Krankheiten. Eine Gedenkveranstaltung des Bundestages wäre angemessen gewesen;
(Beifall bei der LINKEN)
denn die Opfer eignen sich nun wahrlich nicht für eine Instrumentalisierung in Abhängigkeit von der Qualität der deutsch-russischen Beziehungen.
Die zweite Anmerkung. Zum 75. Jahrestag des Überfalls reist Bundespräsident Gauck durch verschiedene Länder, nur nicht nach Russland. Ich hoffe, dass bald ein Besuch des Bundespräsidenten in Russland nachgeholt wird.
Mit der Weisung Nummer 21 vom 18. Dezember 1940 befahl Hitler das sogenannte „Unternehmen Barbarossa“, den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion. Am 22. Juni 1941 begann der Krieg, nachdem die Nazis meinten, in Westeuropa ihre wesentlichen Kriegsziele erreicht zu haben. Der Überfall auf die Sowjetunion und auf andere osteuropäische Staaten unterschied sich in der Qualität erheblich von den Überfällen auf die westeuropäischen Staaten. Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein Vernichtungskrieg. Die Vernichtungsziele richteten sich gegen die sowjetischen Jüdinnen und Juden, gegen die politischen Kommissare und gegen die, wie es die Nazis nannten, slawischen Untermenschen. Selbst der Hungertod der Slawinnen und Slawen wurde geplant und war beabsichtigt.
Zu den ökonomischen Interessen kamen ein einzigartiger Antisemitismus und Rassismus hinzu. Die Jüdinnen und Juden mit insgesamt 6 Millionen Opfern und die sowjetischen Völker mit über 27 Millionen Toten, darunter auch ein großer Teil der genannten Jüdinnen und Juden, waren die Hauptleidtragenden dieses verbrecherischen, historisch einzigartigen Krieges, der mit äußerster Brutalität und Grausamkeit geführt wurde.
Man ist heute übrigens immer noch sprachlos angesichts dessen, dass der Überfall der Nazis die Sowjetunion so unvorbereitet traf. Nach dem sogenannten Hitler-Stalin-Pakt glaubte Stalin sich sicher zu sein, von den Nazis nicht angegriffen zu werden. Über das „Unternehmen Barbarossa“ – das weiß man inzwischen aus der historischen Forschung – gab es 267 Meldungen nach Moskau, darunter auch die des damaligen sowjetischen Spions Richard Sorge. Aber Stalin glaubte ihm nicht, er glaubte Hitler. Später war Stalin nicht bereit, Richard Sorge auszutauschen – wohl nur, weil Sorge recht hatte und nicht er, und Sorge es auch noch wusste und hätte verbreiten können.
Nach schweren Verlusten und unermesslichem Leid in nahezu jeder Familie in Russland und in anderen Völkern der früheren Sowjetunion und auch nach großem Leid im deutschen Volk konnte die Wehrmacht letztlich zurückgedrängt und besiegt werden. Die Schlacht bei Stalingrad mit Abertausenden Toten, auch Hungertoten, führte zur Wende.
Die Hauptlast des Krieges trugen – auch das ist unumstritten – die Völker der Sowjetunion, wobei die Leistungen des amerikanischen, des britischen und des französischen Volkes und der anderen Völker, darunter gerade auch die des polnischen Volkes, nicht unterschätzt werden dürfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutigen Beziehungen des Westens – der USA, der Europäischen Union, darunter auch Deutschland – zur Russischen Föderation könnten wahrlich besser sein. Es gab die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland, aber es gab vorher auch einen völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien, und es gab eine völkerrechtswidrige Lostrennung des Kosovo. Russland hat sich strikt dagegen gewandt, hatte jedoch keine Chance. Aber Russland reagierte nicht mit dem Rasseln von Säbeln, sondern hat im Kosovo bei der Befriedung noch mitgewirkt. Die USA und die EU reagieren dagegen auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim mit Sanktionen gegen Russland, die NATO mit der Verlegung von Soldaten nach Osten an die russische Grenze, mit groß angelegten Militärmanövern gegen Russland.
Was sollen diese Gebärden des Westens? Wenn sich die Russen eingekreist fühlen, reagieren sie äußerst nervös. Den für sie überraschenden Überfall durch Hitler-Deutschland haben sie bis heute nicht vergessen. Bringt das militärische Gebaren der NATO uns dem Frieden und der Sicherheit in Europa nur einen Schritt näher, hilft das der Ukraine? Nein, im Gegenteil.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie, Herr Außenminister, haben kürzlich gesagt:
Was wir jetzt nicht tun sollten, ist, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anheizen.
Das ist Ihr Zitat, und Sie haben völlig recht. Nur, weshalb nimmt die Bundeswehr dann an dem Säbelrasseln teil? Weshalb haben auch Sie als Außenminister dem Treiben der NATO zuvor zugestimmt? 250 Soldaten der Bundeswehr werden an die russische Grenze verlegt, weil sich Nachbarstaaten durch Russland bedroht fühlen. Was heißt das? Bedeutet das erstens, dass ab jetzt Soldaten entsandt werden wegen eines Gefühls?
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist mehr als ein Gefühl!)
Bedeutet das zweitens, wenn es eine wirkliche Gefahr gäbe, reichen 250 Soldaten? Die halten nicht einmal einen Tag. Drittens. Meinen Sie, es ist die richtige Symbolik, 75 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion deutsche Soldaten an die russische Grenze zu entsenden?
(Beifall bei der LINKEN)
Ich finde das völlig falsch.
Wir wissen doch, dass dieses Säbelrasseln nur zu einem neuen Wettrüsten in Europa nach Überwindung des Kalten Krieges führt, bei dem außer den Rüstungskonzernen niemand gewinnen wird, aber alle in Europa verlieren werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben morgen die Entscheidung zum Brexit in Großbritannien. Wenn das negativ ausgehen sollte, was ich nicht hoffe, dann könnten doch Länder wie Ungarn und Polen versuchen, zu folgen, dann hätte Ungarn Verluste. Ich könnte mir vorstellen, dass Russland dann bereit ist, die Verluste auszugleichen. Und warum? Weil die EU gegen Russland Sanktionen beschlossen hat, sehen die gar keinen Grund mehr, die EU zu stärken. Ganz im Gegenteil. Es ist doch ganz deutlich zu spüren: Die USA haben in Bezug auf Russland andere Interessen als die Europäische Union und Deutschland. Und dieses andere Interesse müssen Sie endlich auch durchsetzen, und dafür müssen Sie endlich einstehen. Und Sie müssen endlich begreifen, dass es nichts bringt, militärisch und wirtschaftlich – hinsichtlich der Sanktionen – den USA nur hörig zu folgen. Dieser Weg ist falsch.
(Beifall bei der LINKEN)
75 Jahre nach dem Überfall sollten wir innehalten, der Opfer des Vernichtungskrieges Deutschlands gedenken und mindestens folgende Lehre daraus ziehen: Wir haben in Europa nur eine friedliche, sichere Zukunft mit, nicht ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland.
(Beifall bei der LINKEN)
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6944632 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 178 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zum 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion |