22.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 178 / Tagesordnungspunkt 4

Bernhard KasterCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zum 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute, am 22. Juni, in diesen Tagen und in dieser Debatte sprechen wir über die deutsch-russischen Beziehungen, über die Besonderheiten, aber auch über die Tragik der gemeinsamen Geschichte, und wir sprechen über Verantwortung, ja auch über besondere Verantwortung. Wer ein Gefühl dafür bekommen will und es förmlich physisch sowie mental spüren will, was mit dieser Verantwortung gemeint ist bzw. gemeint sein sollte, dem empfehle ich den Besuch von zwei Orten.

Erstens empfehle ich den Besuch des Gedenkfriedhofs Piskarjowskoje in Sankt Petersburg, der auf erschütternde Weise daran erinnert, wie man in dieser Stadt, dem damaligen Leningrad, in einer über zweijährigen Blockade die Menschen, Alte und Junge, Frauen und Kinder, schlichtweg elendig hat verhungern lassen – über 1 Million Tote. Unmenschlich! Jeder, der da war oder die Bilder gesehen hat, wird das mitempfinden können.

Zweitens empfehle ich einen Besuch des Soldatenfriedhofs Sologubowka, ebenfalls in der Nähe von Sankt Petersburg, wo die sterblichen Überreste Tausender gefallener deutscher Soldaten ruhen – ein Friedhof, der in dieser Form erst Ende der 1990er-Jahre angelegt wurde. Das ist eine ganz besondere, nicht zu unterschätzende Geste Russlands in dieser Stadt. An dieser Stelle richte ich einen besonderen Dank auch an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und seine russischen Partner, dass sie dort die Gedenkstätte eingerichtet haben.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn wir von Soldatenfriedhöfen und Soldaten sprechen, muss uns immer bewusst sein: Wir sprechen vor allem von jungen Menschen, von Söhnen, jungen Ehemännern, Familienvätern, Brüdern und Freunden, die gern noch eine Lebensperspektive gehabt hätten. Das muss uns immer ganz klar sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Kriegsgräberstätten und die Gedenkfriedhöfe in Russland und in Deutschland sind letztlich Narben unserer Geschichte. Narben können verheilen, aber sie bleiben für immer. Sie sind in diesem Fall Narben der Mahnung.

Einer der Hauptkriegsschauplätze – das ist schon gesagt worden – war damals die Ukraine – da, wo heute Krieg ist. Ich sage nur: Vor drei Jahren war Donezk eine blühende Stadt. Schauen wir heute auf das Elend in Donezk. Ebenso waren das Baltikum und Weißrussland Hauptkriegsschauplätze. Herr Gysi, sprechen Sie einmal in Estland in der Grenzstadt Narwa mit den Menschen über ihre Besorgnisse, und hören Sie zu, wie konkret sie sich äußern. Das ist mehr als ein Gefühl.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das, was wir heute, 2016, brauchen, sind vor allem Vertrauen und Verstehen. Hier heißt Verstehen nicht immer gleichsam Verständnis. Wir brauchen besonders Vertrauen in der Spitze. Es muss gelten: Wenn zwischen Ministern Abkommen oder Vereinbarungen getroffen werden, dürfen sie nicht wenige Tage später wieder zur Disposition gestellt werden. Wir brauchen vor allem ein gegenseitiges Verstehen. Was meine ich damit? Russland muss Europa verstehen. Europa muss Russland verstehen. Wir brauchen ein Verstehen in Russland, was für uns eigentlich die europäische Idee bedeutet: die strikte Unverletzlichkeit von Grenzen und die Werte der Charta von Paris. Umgekehrt gilt es, schlicht Interessen zu verstehen, sie zu kennen, sie letztendlich nicht immer zu teilen, aber bei Interessenskonflikten gefährliche Missverständnisse frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

Wenn man wie ich Russland bald 20 Jahre regelmäßig besucht, ob als Bürgermeister, privat oder als Abgeordneter, trifft man auf ein sehr faszinierendes und vor allem gastfreundliches Land. Ich war auch mit der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe unseres Bundestages dort. Man trifft dort auch Menschen außerhalb der Politik – das ist guter Brauch in den Parlamentariergruppen –, also aus der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur, den über 80 Städtepartnerschaften und den NGOs. Bei diesen Begegnungen spürt man viel Sympathie für Deutschland. Ich denke, es ist wichtig, an einem Tag wie dem 22. Juni zu sagen, dass einem dort Sympathie entgegenschlägt, wenngleich die Gräuel voll im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sind. Aber man spürt diese Sympathie. Und man spürt sehr emotional bei seinen Gesprächspartnern in der russischen Gesellschaft, dass ein Miteinander mit Europa und besonders mit Deutschland gewünscht und auch eingefordert wird. Ich kann mich beispielsweise an Gespräche mit Wissenschaftlern erinnern, die uns, den Abgeordneten, gesagt haben: Wir brauchen dringend die Zusammenarbeit mit Deutschland, mit Europa, mit dem Max-Planck-Institut und mit den Universitäten. In großen Teilen war die russische Gesellschaft in den vergangenen Jahren schon immer weiter als die politische Führung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich zum Schluss betonen, wie wichtig das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches ist. Ich habe über Verstehen gesprochen. Verstehen, kennenlernen, lernen – es ist ganz wichtig, der Jugend diese Möglichkeiten zu bieten.

Auf der letzten Sicherheitskonferenz in München sprach Ministerpräsident Dimitrij Medwedew wieder vom Kalten Krieg. Angesichts der weltweiten Herausforderungen in unserem 21. Jahrhundert ist das sicherlich – da sind wir uns einig – das Letzte, was wir gebrauchen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber wir brauchen auch mehr als einen kalten Frieden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner ist der Kollege Alois Karl.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6944699
Wahlperiode 18
Sitzung 178
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte zum 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion
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