Thomas NordDIE LINKE - 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Botschafter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch vor einem Jahr hätte man annehmen können, die heutige Debatte über den 25. Jahrestag des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen würde eine unaufgeregte Würdigung. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sind in vielen Bereichen gut und robust. Trotz der aktuellen Differenzen ist es das beste Verhältnis zwischen beiden Staaten seit Jahrhunderten.
Zum 20. Jahrestag gab es einen Antrag aller Fraktionen, mit Ausnahme meiner Fraktion. Der 25. Jahrestag des Nachbarschaftsvertrags wäre ein sinnvoller Anlass gewesen, auch meine Partei in die Debatte einzubeziehen. Stattdessen haben wir nun zwei verschiedene Anträge, einen Antrag der Regierungsfraktionen und einen der Grünen. Der Stein des Anstoßes, die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, hat hier seit Jahren keine Rolle mehr gespielt. Dass die Union gerade jetzt dieses Thema aus der Mottenkiste holt, ist dem Anlass unangemessen, ist rückwärtsgewandt und nicht auf die wesentlichen Fragen für die deutsch-polnische Zukunft sowie der Europäischen Union ausgerichtet.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Also führen wir erneut die Geschichtsdebatte. Jahrhundertelang waren die Polinnen und Polen Spielball europäischer Großmächte und Opfer machtpolitischer Absprachen – häufig zugunsten Russlands und Preußens bzw. später Deutschlands. Daher kann die Sicht auf den September 1939 hierzulande auch nicht die polnische sein. Die deutsche Perspektive darf nicht hinter die Feststellung Richard von Weizsäckers zurückfallen, nach der der 8. Mai und seine Folgen – also auch der Überfall auf Polen und die Sowjetunion – untrennbar auf den Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland 1933 zurückzuführen sind. Weiter heißt es: „Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion.“
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das waren noch Christdemokraten!)
An dieser Verantwortung Deutschlands ändert auch der „Teufelspakt“ – wie ihn der Historiker Sebastian Haffner nannte – zwischen Hitler und Stalin nichts. Aus polnischer Perspektive gehören der Hitler-Stalin-Pakt und sein Vollzug zur vierten Teilung Polens. Es gab nicht nur Millionen Opfer der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie, sondern auch Hunderttausende Opfer durch stalinistische Säuberungen. Polen hatte im Zweiten Weltkrieg – gemessen an der Bevölkerungszahl – die meisten Opfer zu beklagen. 17 Prozent der Bevölkerung wurden getötet. Himmlers „Generalplan Ost“ hatte nicht nur das Ziel, 50 bis 60 Prozent der Russen, sondern auch 80 bis 85 Prozent der polnischen Bevölkerung zu vernichten und zu vertreiben. Nicht nur Polen als Staat, sondern auch die Polinnen und Polen sollten ausgelöscht werden. „ Germanisierung“ nannte sich das in der Sprache der Dichter und Denker. Gemessen daran ist die Aussage in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen geradezu zynisch:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
Die Polinnen und Polen konnten nach dem Zweiten Weltkrieg keine souveräne Entscheidung über ihre Zukunft treffen. Die Entscheidung über die polnische Nachkriegsexistenz haben die Alliierten in Jalta getroffen, ohne die Polen selbst zu fragen, und das, obwohl Hunderttausende von ihnen auch in den alliierten Armeen zum Sieg über Hitler beigetragen haben.
Polen hat sich das Recht, souverän über Gegenwart und Zukunft zu entscheiden, hart erkämpft. Seine Entscheidungen sind gerade von uns Deutschen zu respektieren. Das schließt den demokratischen Diskurs über politische Differenzen mit ein. Aber weder Äußerungen, dass man Polen „unter Aufsicht“ stellen sollte, noch das Drohen mit Sanktionen sind hier hilfreich, im Gegenteil.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen ist es auch gut, dass die Gestaltung der aktuellen Zusammenarbeit einen großen Teil des Antrags der Regierungsfraktionen ausmacht. Hier gibt es viele gemeinsame Aufgaben und Ziele, auf die wir uns konzentrieren sollten. Aus meiner Arbeit als Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe und als Abgeordneter, dessen Wahlkreis an Polen grenzt, weiß ich, welche große Bedeutung eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern im Alltag vieler Menschen beiderseits der Oder hat. Ohne Zweifel hat diese in der Wirtschaft, beim Ausbau der Infrastruktur, bei der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, im Verhältnis zwischen den Kommunen und der Zivilgesellschaft, bei Bildung, Wissenschaft und Kultur große Fortschritte gemacht. Der Antrag zählt dafür viele konkrete Beispiele auf.
Selbstverständlich bleibt viel zu tun, kann es besser, intensiver und gründlicher gemacht werden. Die Forderungen an die Bundesregierung in diesem Zusammenhang tragen wir weitgehend mit. Mich persönlich bewegen dabei der bedarfsgerechte Ausbau weiterer grenzüberschreitender Verkehrsverbindungen und die Entwicklung des deutsch-polnischen Grenzgebietes als gemeinsamer Wirtschaftsraum. Das ist für die Oderregion von prioritärer Bedeutung. Wichtig scheint es mir zu sein, Forderungen nach Förderung der in Deutschland lebenden Polinnen und Polen sowie polnischstämmiger Bürgerinnen und Bürger und die Verbreitung der polnischen Sprache verstärkt in konkretes Handeln umzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsch-polnischen Beziehungen waren schon in der Vergangenheit häufig mehr als eine bilaterale Frage. Heute gilt das umso mehr. Die aktuellen Debatten mit der neuen Regierung Polens sind daher auch mehr als eine Debatte zwischen Nachbarn, nämlich eine über die Zukunft der Europäischen Union. Diese Zukunft ist für beide Staaten eine zentrale, vermutlich sogar existenzielle Frage. Umso mehr kommt es in den kommenden Monaten und Jahren darauf an, die gemeinsamen Interessen in den Fokus bilateraler Politik zu stellen. Weimarer Dreieck und Visegradgruppe sind zum Beispiel keine Gegensätze, sondern können sich vorteilhaft ergänzen. Polen ist zweifellos ein Schlüsselstaat für den Erfolg der EU-Osterweiterung. Diese Aufgabe erfordert jedoch weiterhin die Solidarität aller Mitgliedstaaten.
Das EU-Rechtsstaatsverfahren und die Kritik der Venedig-Kommission des Europarates müssen ihre Grundlagen ausschließlich in der Mitgliedschaft Polens und den damit eingegangenen rechtlichen Vereinbarungen zwischen souveränen Mitgliedstaaten der EU über unverletzbare Grundstandards zu Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz sowie Presse-, Kunst- und Medienfreiheit haben. Der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen ist eine gemeinsame europäische Herausforderung, die sowohl eine solidarische Grundhaltung gegenüber den Flüchtenden als auch zwischen den Mitgliedstaaten der EU erfordert.
Gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurde hier im Plenum, am 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, sehr nachdenklich über die Verantwortung Deutschlands für die Gestaltung der gegenwärtigen Beziehungen zu Russland diskutiert. Es gibt keinen Grund, auch nur das Geringste von dem infrage zu stellen, was mein Kollege Gysi hier dazu gesagt hat. Zugleich sollten wir bei dieser Debatte immer in Erinnerung behalten, dass dem Überfall auf die Sowjetunion der auf Polen vorausging. Wer eine Politik der friedlichen und nachhaltigen Koexistenz sowie ein kollektives System für Frieden und Sicherheit in Europa unter Einschluss Russlands anstrebt, kann und darf nicht aus den Augen verlieren, dass diese Sicherheit auch eine für die mittel- und osteuropäischen Staaten sein muss.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diese lässt sich nicht durch Säbelrasseln und Wettrüsten erreichen und setzt die Bildung von Vertrauen zwischen allen betroffenen Staaten voraus.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die wechselseitige Garantie der bestehenden Grenzen ist dafür unerlässlich. Gerade der 25. Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages ist ein guter Anlass, dies festzustellen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Thomas Nord. – Nächster Redner ist Dr. Franz Josef Jung für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6946495 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 179 |
Tagesordnungspunkt | 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag |