23.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 179 / Zusatzpunkt 2

Dietmar NietanSPD - 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen die Debatte zur Würdigung des Nachbarschaftsvertrags und seiner 25-jährigen Geschichte an einem für Europa sehr denkwürdigen Tag. Lassen Sie mich so viel sagen: Ob die gerade zu beobachtende innenpolitische deutsche Nabelschau der Bedeutung des Themas „25 Jahre Nachbarschaftsvertrag“ an diesem Tag, an dem die Briten über ihren Verbleib in der EU abstimmen, gerecht wird, muss jeder für sich selber entscheiden. Ich habe dazu meine ganz persönliche Meinung.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte mich ausdrücklich bei Christoph Bergner bedanken. Lieber Christoph, ich gebe das Dankeschön gerne zurück. Ich möchte mich auch bei Manuel Sarrazin bedanken. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Ich stelle einmal die gewagte These auf: Wenn Sarrazin, Bergner und Nietan die Dinge hätten alleine entscheiden können, hätten wir heute einen gemeinsamen Antrag gehabt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Bernd Fabritius [CDU/CSU])

Ich habe es schon betont: Heute ist ein wichtiger Tag für Europa. Deshalb erlauben Sie mir bitte, nachdem schon so viel zum Nachbarschaftsvertrag gesagt worden ist, ein paar grundsätzliche Anmerkungen.

Viele Polen und Deutsche sind heute in dem Hoffen und Bangen miteinander vereint, dass die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, die sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU aussprechen, eine Mehrheit haben. Ich finde, unabhängig davon, wie die Entscheidung in Großbritannien heute ausgeht, sollten uns der Mut und der Freiheitswille der polnischen Nation ein Vorbild sein, morgen unabhängig vom Ausgang dieses Referendums noch härter und noch intensiver daran zu arbeiten, dass Europa zusammenwächst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den Tag genau 46 Jahre, nachdem der Warschauer Aufstand von den deutschen Besatzern brutal niedergeschlagen wurde, konnten wir Deutschen unsere Wiedervereinigung feiern. Wir konnten sie auch deshalb feiern, weil das polnische Volk immer schon für die Freiheitsliebe und für die Freiheit in Europa gestanden hat. Ich erinnere an die erste moderne Verfassung, die es in Polen gab. Ich erinnere an die Losung des Novemberaufstands von 1830: „Für unsere und eure Freiheit!“

Ich selber werde den 14. August 1980 nicht vergessen. An jenem Tag konnten wir ein Bild sehen, das um die Welt ging. Damals stand ein Mann mit einem sehr charakteristischen Schnauzbart auf der Mauer der Danziger Lenin-Werft, und man konnte seinem Blick entnehmen, dass er sehr entschlossen war und keine Angst hatte. Lech Walesa stand auf der Mauer und lächelte die Hoffnung zuversichtlich heraus. Dieses Bild werden viele von uns nicht vergessen.

Es ist schon etwas ganz Besonderes, dass ausgerechnet das polnische Volk, welches unermesslich unter deutscher Barbarei gelitten hat, einen so herausragenden Beitrag geleistet hat, damit die Deutschen ihre Einheit wiedererlangen konnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es nötigt einem allen Respekt ab, mit welcher Chuzpe Lech Walesa und seine Freunde es geschafft haben, eine Diktatur ohne Blutvergießen zu stürzen, indem sie sich mutig und kaltschnäuzig mit ihrem Unterdrücker, General Jaruzelski, an einen Tisch gesetzt und einfach das Regime wegverhandelt haben. In einem Staat, in dem zu dieser Zeit über 100 000 sowjetische Soldaten stationiert waren, war das ein unglaubliches Meisterstück.

Es ist schon fast ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Anhänger und ideologischen Chefdenker der heutigen Regierung ausgerechnet das Lech Walesa vorwerfen: dass er es geschafft hat, ohne Blutvergießen eine Diktatur zu stürzen. Ich finde, Lech Walesa ist derjenige, der in dieser großartigen Freiheitstradition des polnischen Volkes steht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Noch etwas hat die Solidarnosc-Revolution aus meiner Sicht ausgezeichnet. Der große polnische Denker Aleksander Smolar hat das auf den Punkt gebracht, als er sagte: Der Erfolg der Solidarnosc war eine Antirevolution, weil der Bewegung der Solidarnosc das revolutionäre Pathos fehlte, dass sie eine Revolution machen würden, die alle Menschen schlagartig befreie und das Himmelreich auf Erden schaffe.

Ich finde, dass es gar nicht genug wertzuschätzen ist, welchen Beitrag die Polen mit dieser, wenn ich es so sagen darf, revolutionären Antirevolution zur europäischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts geleistet haben. Ich finde, heute ist ein guter Tag, daran zu erinnern, nicht nur wegen der Abstimmung in Großbritannien, sondern auch, weil wir feststellen müssen, dass die Freiheit in Europa durch innere und äußere Feinde immer mehr unter Druck gerät.

Uns gefährdet nicht nur ein Terrorismus, der unsere Werte ablehnt. Es sind gerade die inneren Feinde in unseren Staaten, die glauben, mit autoritärem Gebaren, mit einfachen Lösungen und einem plumpen Nationalismus, der zwischen uns und denen unterscheidet, irgendetwas erreichen zu können, und die die oft berechtigten Ängste der Menschen schamlos ausnutzen für ein Spiel mit der Angst, das am Ende in Europa nicht mehr, sondern weniger Freiheit bringen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht es vielleicht Sinn, auch heute noch einmal nach Danzig zu schauen, zu dieser Stadt, in der so vieles anfing. Direkt an der Lenin-Werft steht heute das Europäische Zentrum der Solidarnosc. Und ebenfalls in Danzig entsteht gerade ein großartiges Museum zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Beide Einrichtungen sorgen dafür, dass die Geschichte der Freiheit und des Kampfes um Freiheit in Europa eben nicht vergessen wird. Sie sorgen weiterhin dafür, dass wir diese Geschichte im Rahmen einer Multiperspektivität in einem europäischen Kontext betrachten können, um durch ein gemeinsames Lernen und Handeln aus der Geschichte heraus zu einem gemeinsamen Europa zu kommen. Das ist ein völlig anderer Ansatz als das engstirnige und ausgrenzende nationalistische Pathos, das gerade diejenigen in Polen vorbringen, denen diese beiden Einrichtungen in Danzig ein Dorn im Auge sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb macht es, finde ich, auch Sinn, heute zu unterstreichen, dass genau solche Einrichtungen in der großen polnischen Tradition der Freiheitsliebe stehen. Das trifft leider nicht auf das zu, was wir von der derzeitigen polnischen Regierung sehen müssen.

Vor allen Dingen wird aber die Tradition, sich für die Freiheit einzusetzen, von den vielen Bürgerinnen und Bürgern in Polen fortgesetzt, die sich im Komitee zur Verteidigung der Demokratie zusammengeschlossen haben. Ich finde, diese Bürgerinnen und Bürger sind die wahren europäischen Patrioten, die wir in allen Ländern der Europäischen Union – und nicht nur in Polen – brauchen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal unterstreichen, dass wir eben diese europäischen Patrioten brauchen, die sich für ein gemeinsames, freies und solidarisches Europa einsetzen, welches den aufkommenden nationalistischen Ideologien die unideologische Idee der so erfolgreichen Antirevolution der Solidarnosc entgegensetzt, die da lautet, einfach mit solidarischem Handeln die Wirklichkeit Schritt für Schritt gemeinsam zum Guten zu verändern, anstatt sich einer Ideologie zu verschreiben.

In diesem Sinne möchte ich zum Schluss meinen polnischen Freunden zurufen: Walczmy znow razem za wolnosc wasza i nasza we wspolnej, wolnej i solidarnej Europie! – Lasst uns wieder gemeinsam kämpfen für eure und unsere Freiheit in einem gemeinsamen, freien und solidarischen Europa!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Heck für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6946611
Wahlperiode 18
Sitzung 179
Tagesordnungspunkt 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag
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