Ralph BrinkhausCDU/CSU - Regierungserklärung zum Ausgang des Referendums
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bartsch, eine kleine Korrektur: Die Tories haben die EVP schon vor längerer Zeit verlassen.
Aber Sie haben mit einer Bemerkung tatsächlich recht gehabt, und das ist sehr ernsthaft: Die Größe und das Format einer Institution und einer Gemeinschaft zeigen sich auch dann, wenn jemand diese Gemeinschaft verlässt. Dementsprechend muss ich sagen: Die eine oder andere Aufgeregtheit aus Brüssel, aus anderen europäischen Hauptstädten oder auch hier im Parlament ist vor diesem Hintergrund nicht zu verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass dabei Emotionen hochkochen. Aber Enttäuschung ist kein guter Ratgeber, und Zorn ist nicht sonderlich souverän.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Souverän ist das, was einige Kollegen hier gemacht haben, nämlich darauf hinzuweisen, was uns mit Großbritannien verbindet. Das sind nicht nur wirtschaftliche, kulturelle und politische Beziehungen, sondern auch ganz viele persönliche Freundschaften. Wir haben Großbritannien ganz viel zu verdanken. Großbritannien hat dafür gesorgt, dass es in diesem Land eine Demokratie gibt und dass sich die Bundesrepublik Deutschland so entwickelt hat, wie wir sie heute kennen. Dementsprechend werbe ich nachhaltig darum, fair mit Großbritannien umzugehen, ein faires Verfahren durchzuführen. Natürlich muss klar gesagt werden, was geht und was nicht geht, genauso wie es die Bundeskanzlerin gemacht hat. Aber wir müssen auch den Langmut, die Größe und die Geduld für Großbritannien aufbringen, wie wir es auch bei anderen Ländern getan haben. Großbritannien war immer ein harter Verhandlungspartner. Großbritannien war nicht immer einfach. Aber Großbritannien hat nie Verträge gebrochen.
(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Großbritannien hat nie Zusagen nicht eingehalten. Großbritannien hat auch nie falsche Zahlen geliefert. Ich erwarte deswegen, dass gegenüber Großbritannien die Fairness geübt wird, die auch gegenüber anderen geübt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Natürlich müssen wir nun darüber diskutieren, wie der Prozess abläuft und wie wir auseinanderkommen. Viele Redner haben heute gesagt, dass das vernünftig gestaltet werden kann. Es muss vernünftig gestaltet werden, weil wir über die Freundschaft zu Großbritannien hinaus wirtschaftliche Interessen haben. Wie Herr Oppermann bereits gesagt hat, geht nicht nur ein Land, sondern auch die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Es geht einer unserer wichtigen Handelspartner. Mit Großbritannien geht aber auch ein Land aus der Europäischen Union, das mit seinem Geist für Wirtschaftsliberalität und Wettbewerb der Union sehr gut getan hat.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vor diesem Hintergrund ist die Frage schon berechtigt, welche wirtschaftliche Bedeutung das Ausscheiden Großbritanniens für uns hat. Aber ich warne vor dem Alarmismus, der allenthalben gepflegt wird. Ich warne davor, den nun erscheinenden Gutachten, in denen darauf hingewiesen wird, wie viel Bruttoinlandsprodukt verloren geht und welche schrecklichen Dinge noch passieren, sofort Glauben zu schenken. Denn es hängt von uns ab, wie wir die zukünftigen Beziehungen zu Großbritannien gestalten, ob das etwas Gutes wird oder ob das nicht etwas Gutes wird. Es hängt natürlich auch davon ab, wie es in Großbritannien innenpolitisch weitergeht. Es ist überhaupt keine Häme angebracht, wenn es nun Auseinandersetzungen in der konservativen Partei, der Labour-Partei oder anderen politischen Richtungen gibt. Das hilft uns nicht weiter. Damit wir unsere Autos, Küchen und Waschmaschinen weiterhin nach Großbritannien exportieren können, sind wir darauf angewiesen, dass es dort eine ordentliche Binnennachfrage gibt. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Verhältnisse in diesem Land sehr schnell klären werden. Wir sollten alles dafür tun, dass das auch klappt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir müssen uns aber über alle Emotionen und wirtschaftlichen Bedenken hinaus natürlich Gedanken darüber machen, wie es mit Europa weitergeht. Ich bin verwundert, dass jeder, kaum dass das Abstimmungsergebnis veröffentlicht war, seine ihm bequeme Lösung parat hatte, die er schon immer vertreten hat. Die einen haben gesagt: „Wir brauchen jetzt eine Intensivierung Europas“, als ob Dinge wie gemeinsame Einlagensicherung die Begeisterung bei den Euro-Skeptikern steigern würden. Die anderen haben gesagt: „Wir brauchen gar kein Europa mehr“, als ob wir Herausforderungen wie Flucht und Migration ohne Europa hinbekommen würden. Die einen sagen: „Jetzt müssen wir ordentlich Geld ausgeben, um zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen“, und die anderen sagen: „Wir dürfen überhaupt kein Geld mehr ausgeben, weil das nur den Euro-Skeptizismus steigert.“
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist keine Zeit für Schnellschüsse. Wir müssen uns dringend Zeit nehmen, um profund und genau darüber nachzudenken, ob die europäischen Institutionen und die europäischen Regeln, aber auch – das sage ich ganz klar an dieser Stelle – die Gesichter, die dieses Europa bisher vertreten haben, geeignet sind, Europa in das nächste Jahrzehnt zu führen, und dafür sorgen, dass die Fliehkräfte, die Sie artikuliert haben, nicht entstehen und Europa zusammenbleibt. Damit müssen wir sehr kritisch umgehen.
Eine Frage ist allerdings am heutigen Vormittag kaum gestellt worden; diese müssen wir uns alle stellen. Die Abstimmung in Großbritannien ist nur vordergründig eine Abstimmung gegen Europa gewesen. Es ging viel tiefer. Es ist eine Abstimmung gegen das etablierte politische System.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]
Es ist eine Abstimmung gegen das 21. Jahrhundert. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit und den Milchmann zurückzubekommen. Leider ist das ein Phänomen, das wir nicht nur in Großbritannien haben, sondern das haben wir mittlerweile in ganz vielen Staaten, leider auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir als Vertreterinnen und Vertreter dieses etablierten politischen Systems müssen uns selbst ganz dringend fragen, bevor wir mit dem Finger auf Großbritannien zeigen, bevor wir mit dem Finger auf Brüssel zeigen, was wir anders machen können, um das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die uns momentan von der Fahne gehen. Wenn dieses Referendum dazu dient, dass wir diesen Prozess auch hier im Deutschen Bundestag einleiten und uns selbst infrage stellen, dann ist es tatsächlich so, wie Gerda Hasselfeldt gesagt hat: Dann ist diese Krise auch eine Chance.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich schließe die Aussprache.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6960449 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 181 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Ausgang des Referendums |