07.07.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 183 / Tagesordnungspunkt 4

Anton HofreiterDIE GRÜNEN - Regierungserklärung zum NATO-Gipfel

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verhältnis zu Russland ist so schlecht wie seit der Zeit des Kalten Krieges nicht mehr. Die Sorge vieler Menschen auf dem Kontinent vor einem Krieg ist so groß wie schon lange nicht mehr. Mit der Annexion der Krim und mit den Aktionen in der Ostukraine hat Russland, hat Putin die Friedensordnung in Europa auf den Kopf gestellt. Man muss ganz klar sagen: Es ist eine besondere Tragik, dass mit der Ukraine das erste Land weltweit, das freiwillig seine Atomwaffen komplett abgegeben hat, von seiner eigenen Garantiemacht überfallen worden ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Von einer Fraktion, die gern von sich behauptet, dass ihr Friedenspolitik wichtig wäre,

(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ist!)

dazu nie wirklich etwas zu hören, finde ich, ehrlich gesagt, beschämend und problematisch. Dass ein Land, das, wie gesagt, freiwillig seine Atomwaffen komplett abschafft, von seiner Garantiemacht überfallen wird, ist ein solcher Rückschlag für eine vertragsbasierte Friedens­politik, wie wir ihn lange nicht erlebt haben. Da würde ich mir vonseiten der Linksfraktion ganz klare Worte wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Putin ist über das Budapester Abkommen hinweggetrampelt. Er hat die Souveränität der Ukraine ignoriert, und er hat ihre territoriale Integrität ignoriert. Es ist ganz klar, dass dieses Vorgehen nicht hinnehmbar ist. Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb war die Reaktion der EU und war die Reaktion der NATO richtig und wichtig. Es war richtig und wichtig, dass die Europäische Union gemeinsam Sanktionen verhängt hat. Es ist völlig verständlich und nachvollziehbar – das darf man auch mit Blick auf die Geschichte nicht ignorieren –, dass die östlichen Staaten der NATO jetzt größere Sicherheitsbedürfnisse und Bedenken haben. Das liegt doch auf der Hand. Es ist notwendig und richtig, dass es eine Rückversicherung im Bündnis gibt und dass das Bündnis zusammenstehen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Aber dabei stellt sich die Frage: Was ist die richtige Antwort darauf? Ich habe gewisse Zweifel, dass der Einstieg in die Aufrüstungsspirale und Sprachlosigkeit die richtige Antwort sind. Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz – ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn einmal als friedenspolitischen Kronzeugen zitieren würde –,

(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das sagt über beide was!)

hat gesagt, dass die Gefahr so groß wie selten ist, dass die Eskalationsschritte in Richtung militärische Kampfhandlung führen werden, und er gibt einen ganz klaren Rat in Richtung NATO und Bundesregierung: Nicht draufsatteln, sondern mäßigen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, es wäre wichtig, dass die Bundesregierung diesen Rat beherzigt. Denn das ist der alte Irrweg, dass man auf ein Manöver mit dem nächsten Manöver und auf Aufrüstung auch mit Aufrüstung reagiert; das ist die Spirale des Kalten Krieges. Wir sollten eigentlich etwas aus dem Kalten Krieg gelernt haben.

Da teile ich ja die Meinung von Thomas Oppermann, aber ich würde dann auch erwarten, dass ihr euch mit dieser Haltung gegenüber der Bundesregierung und der NATO durchsetzen könnt. Da werden nämlich andere Dinge diskutiert. Die Kanzlerin hat es dargestellt. Da wird diskutiert, dass die Raketenabwehr als angeblich defensives System – es wird von Russland überhaupt nicht als defensiv empfunden – weiter ausgebaut werden soll. Die Reaktion darauf zeigt sich bereits: In Kaliningrad werden jetzt auch Raketen aufgestellt.

Genau das ist der Einstieg in die Rüstungsspirale. Das ist in der Vergangenheit immer mit dem Iran begründet worden. Jetzt haben wir das Abkommen mit dem Iran, aber es wird weiter daran festgehalten. Das ist genau der Irrweg, den wir eigentlich überwunden haben sollten. Ich würde von euch und auch von Herrn Steinmeier erwarten, dass ihr euch, wenn das schon erkannt wird, gegenüber der Bundesregierung entsprechend durchsetzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die Gespräche darüber angeht, dass jetzt dauerhaft NATO-Truppen in den östlichen Staaten stationiert werden sollen – wir sprechen nicht von Air Policing; das können wir absolut verstehen und halten es für richtig, sondern es geht um die dauerhafte Stationierung von Truppen –, besteht die Gefahr, dass die NATO-Russland-Grundakte auch von unserer Seite gebrochen wird. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich ganz eindeutig dagegenstellt. Denn das wäre ein weiterer Schritt in Richtung Eskalation.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundeskanzlerin hat auch hier davon gesprochen, dass 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgegeben werden sollen. Das würde bedeuten, wenn wir es wirklich umsetzen, dass wir 25 Milliarden Euro mehr für Rüstung ausgeben würden. Es kann doch nicht ernsthaft die Antwort der Großen Koalition auf die globalen Herausforderungen sein, 25 Milliarden Euro mehr für Waffen ausgeben zu wollen. Ist das eine Belohnung für das, was wir bereits sehen: dass Frau von der Leyen die Bundeswehr nicht im Griff hat und dass bis jetzt viel Geld verschwendet worden ist? Das kann doch nicht ernsthaft Ihre Antwort auf die globalen Herausforderungen sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es war die Rede davon, dass die NATO im Abriegeln der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei sehr erfolgreich ist und dass dort weniger Menschen sterben. Ja, das kann man, wenn man so will, als Erfolg sehen. Aber wenn man sieht, was im Mittelmeer insgesamt passiert – dass die Menschen jetzt über Ägypten fliehen, was ein weitaus gefährlicherer Weg ist und dazu führt, dass sie wesentlich länger auf dem Meer sind, sodass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass mehr Menschen ertrinken –, zeigt sich eindeutig, dass militärische Abschottung keine sinnvolle Maßnahme ist, wie man mit Geflüchteten umgeht. Auch da würde ich erwarten, dass Sie sich um die Ursachen kümmern und nicht nur auf Abschottung setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ursprünglich war ja vorgesehen, dass wir heute auch über den Brexit sowie über die Ergebnisse des Europäischen Rates diskutieren

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das hätte auch Sinn gemacht!)

und dass Frau Merkel in der Regierungserklärung etwas dazu sagt. Ich finde es sehr bedauerlich, dass wir von ihr dazu nichts gehört haben. Von der Bundesregierung insgesamt haben wir nämlich sehr, sehr viel gehört – aber extrem viel Unterschiedliches. Europa steht vor der größten Herausforderung in seiner Geschichte. Die Europäische Union ist bedroht wie nie, und was haben wir für eine Bundesregierung? Wir haben einen Herrn Schäuble, der mehr Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten fordert und gleichzeitig auf die EU-Institutionen wie die Kommission eindrischt. Wenn ich mir Herrn Schäubles Bilanz bei der Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten anschaue, so fällt mir zum Beispiel die Finanztransaktionsteuer ein, die in der letzten Legislaturperiode vereinbart wurde.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Bereits 2008!)

Ich glaube, wir haben sie immer noch nicht umgesetzt. Sie sollten sich einmal an die eigene Nase fassen, Herr Schäuble, und überlegen, wie erfolgreich diese Zusammenarbeit bis jetzt ist, statt auf andere einzudreschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich mir diese Bundesregierung weiter anschaue, so haben wir dort einen Herrn Gabriel, der die EU gleich neu gründen möchte und davon spricht, dass mehr investiert wird. – Ja, das halten wir für richtig, dass mehr investiert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Union – ich glaube, ihr seid in der gleichen Koalition; Herr Gabriel ist immerhin Vizekanzler – antwortet auf die Vorschläge des Vizekanzlers mit der Aussage: Griff in die sozialistische Mottenkiste.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kennt sich beim Sozialismus nicht so aus!)

So präsentiert sich die Große Koalition. So präsentiert sich die Bundesregierung in der größten Herausforderung, vor der die Europäische Union steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So präsentiert sich die Regierung eines der wichtigsten und mächtigsten Länder der Europäischen Union. Das kann doch nicht euer Ernst sein!

(Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])

Und wie reagiert die Bundeskanzlerin auf das Ganze? Wie reagiert sie auf das Chaos in ihrer eigenen Regierung? Sie reagiert damit, dass sie einfach dazu schweigt. Das kann doch nicht ihr Ernst sein angesichts der historischen Aufgabe, vor der wir stehen! Das ist ein historisches Versagen dieser Bundesregierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Keine Sorge, das wird schon gut! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank haben wir euch!)

Selbstverständlich müssen wir uns intensiv damit beschäftigen, was eigentlich los ist in Europa, warum Antieuropäer und Rechtspopulisten einen solchen Zulauf erhalten: fast 50 Prozent für die FPÖ in Österreich, Le Pen führt in den Umfragen für die Präsidentschaftswahlen, und in Polen und Ungarn sind bereits Regierungen mit einem extrem seltsamen Demokratieverständnis an der Macht. Wir könnten viele weitere Länder aufzählen. Wir müssen uns überlegen, wo die Zusammenhänge sind.

Natürlich hat das auch etwas mit Fehlern in nationaler und europäischer Politik zu tun. Wir halten CETA auch für grundfalsch und haben die Rechtsauffassung, dass CETA stark in die Belange der Nationalstaaten eingreift und deshalb rechtlich ein gemischtes Abkommen ist.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Aber man kann nicht davon sprechen, dass es, wenn nur das Europaparlament darüber abstimmen würde, antidemokratisch wäre. Es ist in unseren Augen eine falsche Entscheidung, dies zu tun. Aber eine falsche Entscheidung, die von einer Mehrheit gedeckt ist, ist nicht deshalb antidemokratisch, nur weil ich oder die Linksfraktion sie für falsch halten. Vielmehr muss man dann halt für andere Mehrheiten kämpfen und darf nicht davon reden, dass diese Entscheidungen antidemokratisch wären.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Europa muss wieder dafür sorgen, dass es seine vier Grundversprechen erfüllt. Diese waren: Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle. Wenn wir gemeinsam dafür sorgen, dann haben wir auch alle Chancen, dass die Menschen wieder der Meinung sein werden: Die Europäische Union ist eine gute Sache; die Europäische Union dient allen. Die Europäische Union ist unsere einzige Chance, bestimmte grundlegende Probleme weltweit zu lösen. Viele Nationalstaaten sind zu klein, um Herausforderungen wie der Klimakrise –

Herr Kollege.

– und den Steuerhinterziehungen transnationaler Konzerne zu begegnen. Dazu brauchen wir die Europäische Union – nicht, weil es eine Garantie dafür gibt, dass sie die richtige Politik macht, aber weil es die Chance gibt, dass sie die richtige Politik macht, wenn wir die richtigen Mehrheiten erkämpft haben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Hellmich [SPD])

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6969539
Wahlperiode 18
Sitzung 183
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum NATO-Gipfel
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