Bettina HagedornSPD - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind hier in der Debatte zum Etat der Bundeskanzlerin. Auch wenn sie möglicherweise gerade gegangen ist, will ich doch mit der Frage anfangen, die sie uns allen heute Morgen in ihrer Rede gestellt hat: Welches Land wollen wir sein? Diese Frage, die sie auch mit Blick auf die Ergebnisse vergangener Landtagswahlen, die uns alle beunruhigen und bei denen alle vier hier im Bundestag vertretenen Parteien Verluste erlitten haben, möchte ich gerne beantworten.
Sie haben gesagt, Frau Bundeskanzlerin: Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen. Dazu brauchen wir Ehrlichkeit. – Das stimmt. Wir brauchen gerade Linien. Darum möchte ich mit einem Zitat der Kanzlerin vom Juni 2009 auf dem Deutschen Seniorentag zur Rentenangleichung beginnen:
Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichung von Ost und West brauchen. Ich würde, wenn Sie mich nach dem Zeitrahmen fragen, sagen, dass das Thema in den ersten beiden Jahren der nächsten Legislaturperiode erledigt sein wird.
Das wäre übrigens 2011 gewesen. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP von 2009 steht:
Das gesetzliche Rentensystem hat sich auch in den Neuen Ländern bewährt. Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein.
Wenn wir jetzt über verlorengegangenes Vertrauen sprechen und darüber, dass wir Zeichen setzen wollen, dann möchte ich daran erinnern, dass wir in unserem Koalitionsvertrag uns gegenseitig in die Hand versprochen haben, 30 Jahre nach der deutschen Einheit die Angleichung der Renten in Ost und West in einem Stufensystem zu erreichen. Ich finde, Frau Merkel, dieses Wort müssen wir halten. Als die Bundeskanzlerin und später auch Thomas Oppermann Dietmar Bartsch widersprochen haben, als es um die Höherbewertung ging, die dann selbstverständlich entfallen muss, haben Sie am Beifall der SPD und der CDU/CSU in diesem Haus gemerkt: In der Sache, wie wir das gestalten wollen, sind wir uns in dieser Großen Koalition einig. Es geht aber um einen einzigen Punkt – darum gehört das in diese Debatte –: Es geht um die Finanzierung.
Bei dem Konzept von Andrea Nahles, zu dem sie mit dem Koalitionsvertrag beauftragt worden ist, geht es um 1,8 Milliarden Euro für 2018 und ab 2020 um 3,9 Milliarden Euro pro Jahr. Dazu hat Andrea Nahles – aus meiner Sicht und aus Sicht der SPD natürlich vollkommen zu Recht – gesagt: Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir sind über alles, was diese Reform angeht, etwa das Tempo, gesprächsbereit. Aber eine Sache ist nicht verhandelbar, und das ist die Frage der Finanzierung.
Wenn das Ministerium von Herrn Schäuble, wie in der Zeitung Die Welt am 28. Juli berichtet wird, mitteilt, daher sei die Gegenfinanzierung unmittelbar, vollständig und dauerhaft bei der gesetzlichen Rentenversicherung sicherzustellen, dann ist das, sorry, eine Unverschämtheit. Denn es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies gehört nicht in die Rentenkasse.
Die Wahrheit ist – daran möchte ich an dieser Stelle erinnern –, dass die deutsche Einheit insgesamt durch die Weichenstellung in den 90er-Jahren – wir fanden das immer falsch – ganz maßgeblich zulasten der sozialen Sicherungssysteme und gerade auch zulasten der Rentenversicherung in Deutschland finanziert worden ist. Darum ist es eine Frage der Gerechtigkeit, dass jetzt der letzte Schritt der Anpassung aus den Steuermitteln finanziert wird.
(Beifall bei der SPD)
Die Stellungnahme aus dem Finanzministerium macht deutlich – das ist auch gestern schon bei ein paar Rednern angeklungen, nach dem Motto „Wir blicken besorgt auf die Sozialquote“ und Ähnliches; damit war das, denke ich, indirekt ein Stück weit gemeint –, dass es nicht technokratisch um die Frage geht, ob wir es uns leisten können, das aus Steuermitteln zu finanzieren. Die Frage muss vielmehr sein: Wollen wir uns das leisten? Das hat auch etwas mit der Frage von Frau Merkel heute Morgen zu tun. Es ist nämlich eine wertebezogene Frage, und wir müssen darauf eine wertebezogene Antwort geben: In welcher Welt wollen wir eigentlich leben, und wo wollen wir hin?
Ich appelliere ganz dringend an die Große Koalition. Sie haben es gehört: Wir wollen das eigentlich alle gemeinsam machen. Wir haben noch ein Jahr Zeit. Lassen Sie uns diese Zeit nutzen, um das gemeinsam hinzubekommen und damit auch ein Stück Vertrauen bei den Menschen in den ostdeutschen Ländern zurückzugewinnen.
Zurück zu dem, was ich zur Finanzierung gesagt habe, und zu dem hohen Beitrag, den wir Jahr für Jahr aus Steuermitteln für die Rentnerinnen und Rentner ausgeben. Herr Schäuble hat es gestern erwähnt. Er hat gesagt: Ein Drittel jedes Euros, der an Renten ausbezahlt wird, stammt aus Steuermitteln. – Ich habe mich gefragt: Was will er mir damit sagen? Denn die Wahrheit ist: Das war vor zehn Jahren auch schon so. Dieser Aufwuchs der Steuerfinanzierung hat etwas mit der Finanzierung der deutschen Einheit zu tun. Darum komme ich nicht umhin, ein paar Zahlen dazu zu nennen.
1991 betrug dieser Steuerzuschuss 30 Milliarden Euro. 1998 waren es 51,4 Milliarden Euro. Das sind 21,4 Milliarden Euro mehr – pro Jahr wohlgemerkt – innerhalb von sieben Jahren. Ich muss nicht weiter erklären, warum das so gekommen ist. Dass dieser Steuerzuschuss innerhalb von 20 Jahren – also von 1991 bis 2011 – um 50 Milliarden Euro angestiegen ist, zeigt, dass wir in den 90er-Jahren eben nicht offen und ehrlich in Deutschland die Debatte darüber geführt haben, ob wir zum Beispiel die Steuern erhöhen müssen, um die deutsche Einheit als Generationenwerk zu vollenden, sondern das wurde auf die gerade beschriebene Art und Weise gemacht. Jetzt ist es wichtig, dass wir an dieser Stelle auch den letzten Schritt machen.
(Beifall bei der SPD)
Frau Merkel hat dazu am 26. Februar 2016 gesagt: Es gibt, was zusätzliche Leistungen für die einheimische Bevölkerung betrifft, eine Vielzahl von Projekten, die wir noch gar nicht umgesetzt haben. Als Beispiele nannte sie die geplante schrittweise Erhöhung der Ostrenten auf Westniveau und die Eingliederungshilfe für Behinderte. Super! Wir nehmen Sie beim Wort, Frau Merkel: Diese beiden wichtigen Punkte wollen wir mit vielen anderen Vorhaben noch gemeinsam in dieser Legislatur umsetzen.
(Beifall bei der SPD)
Es wird ja hier – auch in den Medien – oft gefragt, ob es nach den Landtagswahlen nicht irgendwelche Kurswechsel geben müsse. Wenn ich auf Bayern blicke: Da wäre – das könnte ich mir vorstellen – ein Kurswechsel vielleicht einmal angebracht. Ansonsten aber sollte es keine hektischen Bemühungen geben. Nein, wir in der Großen Koalition – das gilt gerade für uns Sozialdemokraten – gehen nicht hektisch vor, sondern haben eine klare, lange Linie entwickelt. Wir sagen schon lange: Es ist die eine Seite der Medaille, die Flüchtlinge bei uns aufzunehmen, sie zu registrieren und all die damit zusammenhängenden Dinge zu machen. Sie zu integrieren, ist die andere Seite der Medaille. Das ist die wichtigere und viel langfristigere Aufgabe. Das ist uns übrigens nicht gerade erst heute eingefallen. Vielmehr haben unsere fünf Spitzenpolitikerinnen – Andrea Nahles, Manuela Schwesig, Aydan Özoğuz, Malu Dreyer und Barbara Hendricks – schon im Dezember 2015 das SPD-Integrationskonzept vorgestellt, das wir seitdem nicht nur anmahnen, sondern auch in dieser Regierung als Koalitionspartner umsetzen wollen. Sigmar Gabriel konnte am 18. März nach langen Verhandlungen im Hause Schäuble, die – so hört man – in einer nicht ganz komplett konfliktfreien Gesprächsatmosphäre stattfanden, verkünden, dass wir das Solidarpaket in der Großen Koalition miteinander umsetzen wollen. In ihm ist sehr viel Geld – 5 Milliarden Euro – für aktive Arbeitsmarktpolitik, Wohnungsbau und Städtebau, Kitaausbau, Sprachkitas, Initiativen gegen rechts, Sprachförderung, Integrationskurse und all diese Dinge – das Bundesteilhabegesetz und die Solidarrente kommen noch hinzu – vorgesehen. Mit diesen Mitteln soll sichergestellt werden, dass die Menschen in Deutschland ganz deutlich spüren, dass wir sie nicht vergessen, sie ernst nehmen und wir all die genannten Dinge noch in dieser Legislatur umsetzen wollen.
(Beifall bei der SPD)
Eine letzte Bemerkung zum Stichwort „innere Sicherheit“. Das spielt hier ja zu Recht auch eine große und wichtige Rolle. Wir sind gemeinsam froh, dass wir schon mit den Beschlüssen der Haushälter im letzten Jahr 3 000 neue Bundespolizistenstellen geschaffen haben, von denen natürlich – das ist klar – erst 1 000 Stellen vorhanden sind. Die Bundespolizisten werden drei Jahre lang ausgebildet. Es wurden aber noch viele andere Stellen geschaffen. Da Herr de Maizière nicht anwesend ist, wende ich mich an Ole Schröder:
(Abg. Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU] nimmt in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion Platz und grüßt zur Rednerin – Johannes Kahrs [SPD]: Da geht er!)
Bundespolizisten – das sagt hier jeder – muss man nicht nur haben, die muss man auch gut ausstatten. Daher passt es überhaupt nicht ins Bild, dass die 165 Millionen Euro für drei Schiffe, die wir für Nord- und Ostsee anschaffen wollten, verschwunden sind. Wir sind uns mit den Kollegen im Haushaltsausschuss einig, dass wir das natürlich reparieren werden; aber Vertrauen gegenüber der Bundespolizei wäre leichter zu erreichen gewesen, wenn diese Mittel mit dem Regierungsentwurf gar nicht erst verschwunden wären.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Er war da, saß neben unseren Reihen!)
Als nächster Redner spricht Dennis Rohde für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6999191 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 186 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt |