Sigmar Gabriel - Wirtschaft und Energie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Tagen viel über Verunsicherung in Deutschland gesprochen. Allerdings gibt es auch einen langjährigen Grund für Verunsicherung, den wir erfolgreich zurückdrängen konnten, nämlich die Sorge um den Arbeitsplatz; denn die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 25 Jahren nicht mehr. Ich finde, gerade in dieser aufgewühlten Zeit ist das ein politischer Erfolg, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
43,5 Millionen Menschen finden Arbeit in unserem Land, so viele wie noch nie in der Geschichte der Republik. Das zeigt, worauf es ankommt: Weil unsere Wirtschaft jedes Jahr solide gewachsen ist, sind die Einnahmen des Staates und der Sozialversicherungen gestiegen. Unsere Aufgabe muss es deshalb sein, diesen erfolgreichen Pfad fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass es dabei bleibt. Nach Raten von nur 0,4 und 0,3 Prozent Wirtschaftswachstum in den Jahren 2012 und 2013 hat Deutschland zu Beginn dieser Legislaturperiode 1,6 Prozent erreicht, und in diesem Jahr werden vermutlich 1,7 Prozent erreicht. Noch wichtiger aber ist, dass entgegen manchen öffentlichen Behauptungen die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland nicht steigt, sondern sinkt, während die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse jedes Jahr steigt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das ist nicht irgendwelche Arbeit, sondern Arbeit mit steigenden Einkommen. Die Tariflöhne sind in den letzten Jahren endlich wieder gestiegen. Wir haben uns sehr darum bemüht, die Tarifverträge wieder in den Mittelpunkt der Politik zu bringen. Wir haben Reallohnzuwächse für die arbeitende Mitte der Gesellschaft. Wenn sich Arbeit und Anstrengung lohnen, dann ist das vermutlich der stärkste Stabilitätsanker für unser Land, und nicht nur das. Weil Arbeit da ist und weil Löhne steigen, haben wir die höchste Rentenerhöhung seit 20 Jahren in diesem Land.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik muss die Bundesregierung also irgendetwas richtig gemacht haben.
Demjenigen, der es ganz handfest haben will, will ich eine einfache Zahl nennen: Im Durchschnitt hat heute jeder Arbeitnehmer jedes Jahr rund 1 000 Euro mehr im Portemonnaie als zu Beginn dieser Legislaturperiode. Keine Frage: Wenn der Durchschnitt des verfügbaren Arbeitnehmereinkommens um 1 000 Euro im Jahr gestiegen ist, heißt das auch, dass nicht alle davon profitieren. Auch das gehört zur Wahrheit: Immer noch arbeiten zu viele Menschen, vor allen Dingen im Dienstleistungssektor, zu schlechten Löhnen. Zu viele sind auf schlecht bezahlte Leih- und Zeitarbeit und auf Werkverträge angewiesen. Deshalb dürfen wir uns mit dem Erreichten natürlich nicht zufriedengeben. Mit der Eingrenzung von Leih- und Zeitarbeit und von Werkverträgen, die die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles vorangebracht hat, sind wir auf dem richtigen Weg.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist sie denn?)
Meine Damen und Herren, hinter all diesen Zahlen steckt aber etwas noch viel Grundsätzlicheres: Der Wert der Arbeit in Deutschland ist wieder gestiegen. Leistung, auch Lebensleistung, findet Anerkennung. Das ist für unsere Gesellschaft ein Signal von überragender Bedeutung. Denn das Signal, dass die soziale Marktwirtschaft versucht, ihr Leitbild „Wohlstand für alle“ wieder zu erreichen, ist gerade in solchen Zeiten, in denen wir jetzt leben, wichtig.
Soziale Marktwirtschaft ist eben nicht Hilfe für die Schwächsten – diese Umdeutung zur Caritas haben die Neoliberalen und die sogenannte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft über Jahrzehnte durchzusetzen versucht –, sondern soziale Marktwirtschaft ist der Aufruf zu gerechter Teilhabe am Haben und Sagen derjenigen, die die Werte in der Gesellschaft jeden Tag hart erarbeiten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft ist nicht, dass die Schwächsten nicht unter die Räder geraten sollen, sondern – ich wiederhole es – das Versprechen ist Wohlstand für alle.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ludwig Erhard!)
– Ja, aber man muss eben mehr als die Klappentexte lesen.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber auch mehr vortragen!)
– Leute, ich rate euch, zu lesen, was die Ordoliberalen zur Erbschaftsteuer gesagt haben.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Keine sozialen Untertanen!)
Das würde ich, wie gesagt, einmal nachlesen.
(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Herr Gabriel, setzen Sie das mal um, was Herr Rüstow dazu gesagt hat!)
Die fanden, dass eine zu hohe Erbschaft eigentlich leistungsloses Einkommen ist,
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Richtig!)
das Marktversagen produziert.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Richtig!)
Manchmal hätte ich mir gewünscht, ich könnte eine solche Rede in Anwesenheit der FDP halten. Aber ich sage einmal: Dass sie es jetzt nicht hört, ist auch nicht schlimm.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Richtung wieder stimmt. Ich sage ganz ausdrücklich: Die Arbeit der Großen Koalition in den letzten drei Jahren hat Deutschland drei gute Jahre gebracht.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich bin weit davon entfernt, das als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Im Gegenteil: Gerade weil es ganz gut läuft, darf man nicht selbstzufrieden und zu selbstsicher werden. Wenn wir auch 2025 noch sozial sicher und kulturell vielfältig leben wollen, müssen wir jetzt erneut anpacken, um die wirtschaftliche Dynamik zu erhalten. Wirtschaftlicher Erfolg ist gewiss nicht alles. Aber ohne wirtschaftlichen Erfolg werden wir erneut soziale Verteilungskämpfe erleben, weit weniger Hilfe für Flüchtende bieten und weder in Europa noch anderswo helfen können. Ohne wirtschaftlichen Erfolg wäre die Stabilität unseres Landes möglicherweise ernsthaft in Gefahr.
Meine Damen und Herren, derzeit wächst unsere Wirtschaft solide, trotz einer europäischen und weltpolitischen Umgebung der Krisen und erheblichen Risiken. Die Politik der Bundesregierung antwortet nicht zuletzt auf diese Krisen und Risiken.
Erstens tun wir dies durch höhere Investitionen. Um ein Drittel ist der Investitionshaushalt in dieser Legislaturperiode gestiegen.
Zweitens haben wir die Rahmenbedingungen für den Mittelstand und für junge Unternehmen deutlich verbessert. Wir haben einen Bürokratieabbau im Umfang von 2 Milliarden Euro hinbekommen. Wir haben die Förderung von Wachstumsinitiativen mit Blick auf junge Unternehmen mit einem Volumen von rund 2 Milliarden Euro beschlossen. Wir haben die Mittel der regionalen Wirtschaftsförderung und der Innovationsförderung im Mittelstand ausgebaut. Übrigens: 80 Prozent der Regionalförderung und 40 Prozent der Mittelstandsförderung gehen nach Ostdeutschland.
Drittens. Wir haben ein Integrationspaket und den Beginn eines neuen Solidarpakts auf den Weg gebracht, um aktive Arbeitsmarktpolitik im Hinblick auf die Aufnahme von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu leisten und zugleich allen in Deutschland lebenden Langzeitarbeitslosen ein neues Angebot zu machen, um den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben, und um die Schaffung bezahlbarer Wohnungen für alle Menschen in Deutschland zu ermöglichen und um die Versorgung mit Kitaplätzen auch dann zu sichern, wenn viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien eine Betreuung brauchen.
Durch die sehr gute wirtschaftliche Entwicklung hatten und haben wir dafür auch die finanzielle Leistungskraft, und zwar ohne neue Defizite, ohne Steuererhöhungen und ohne schwere Verteilungskämpfe. Man muss sich einmal überlegen, was das bedeutet: 1 Million Menschen neu aufnehmen, integrieren, keine Steuererhöhungen, keine Defizite, keine schweren Verteilungskämpfe. Ich kenne kein anderes Land der Erde, das dazu so schnell in der Lage gewesen wäre.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Aber wie schnell sich die Lage auch ändern kann, zeigen schon die Zahlen, die der Bundesfinanzminister am Dienstag vorgestellt hat; denn die ausgeglichenen Haushalte seit 2014 und die Haushaltsüberschüsse im Bundeshaushalt haben neben der guten wirtschaftlichen Entwicklung ja vor allem einen Hintergrund: extrem niedrige Ölpreise und massiv gesunkene Zinsen. Rund 20 Milliarden Euro an Zinslast spart der Bundeshaushalt pro Jahr, 122 Milliarden Euro seit 2008.
Gleichzeitig wollen wir ja eigentlich wieder höhere Zinsen haben, weil sonst die privaten Vorsorgeleistungen vieler Versicherter und Sparer dauerhaft gefährdet werden. Bei steigenden Zinsen und steigenden Rohstoffpreisen kann also aus dem Haushaltsplus auch schnell ein Haushaltsdefizit werden. Ich bin deshalb sehr zurückhaltend mit großen Steuersenkungsversprechen. Da ist in den letzten Monaten schon viel zu viel versprochen worden und am Dienstag noch mehr.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
Am Anfang stand die Ankündigung, den kompletten Soli abschaffen zu wollen. Das sind 20 Millionen – –
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Milliarden!)
– Entschuldigung, 20 Milliarden. 20 Millionen, das wäre schön. Das sind also 20 Milliarden Euro. Dann sollen wir den Dauerstreit der Länder lösen und mindestens 5 Milliarden Euro netto zusätzlich dazugeben.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Furchtbar!)
Und seit Dienstag gibt es dann noch einmal die Ankündigung einer Steuersenkung um 15 Milliarden Euro. Das sind zusammen 40 Milliarden Euro, mehr als 10 Prozent des Bundeshaushalts. Mal ganz offen: Wer soll das eigentlich glauben? Das werden wir nicht machen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn man es ernst meint mit Entlastung, muss man zwei Dinge tun: Erstens darf man nicht mit der Gießkanne über das Land ziehen und allen alles versprechen. Wir müssen nicht alle Einkommen steuerlich entlasten, sondern die mittleren und niedrigen. Das ist übrigens auch ökonomisch sinnvoll, weil es Kaufkraft schafft. Vor allem für Alleinerziehende und Familien müssen wir mehr tun. Da bieten sich Sozialabgaben weitaus besser an als Steuern, oder es wäre zum Beispiel besser, durch die Erhöhung des Betriebskostenzuschusses des Bundes dafür zu sorgen, dass überall in Deutschland die Kindertagesstättengebühren abgeschafft werden könnten.
(Beifall bei der SPD)
Das wären dann nicht ein paar Euro pro Monat, sondern 200 Euro und mehr pro Monat für die Familien.
Zweitens sollte man solche Entlastungen nicht nur vor Wahlen ankündigen, sondern sie nach Möglichkeit vor Wahlen machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für die SPD kann ich erklären: Wir haben die Bereitschaft, solche gezielten Entlastungen mittlerer und niedriger Einkommen, insbesondere bei Familien und Alleinerziehenden, noch in dieser Legislaturperiode anzupacken; das kann ich Ihnen versprechen.
(Beifall bei der SPD)
Mindestens ebenso wichtig ist es aber auch, in die Volkswirtschaft zu investieren. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit des Landes weiter verbessern. Wir müssen dringend unsere Schulen und hier vor allem die Berufsschulen modernisieren. Wir brauchen mehr Ganztagsangebote in Kitas und Schulen. Wir brauchen vor allem die modernste digitale Infrastruktur bis 2025 – spätestens dann; sonst werden wir abgehängt –, und das sind Gigabit-Netze, damit wir in Echtzeit Geschäftsmodelle entwickeln können.
(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie mal etwas tun!)
– Das machen wir ja. Wir fangen an.
(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu zögerlich!)
Herr Dobrindt hat sich eine gewaltige Aufgabe vorgenommen. Er hat ein Zwischenziel bis 2018, von dem Sie noch vor der letzten Bundestagswahl gesagt haben, wir könnten es nicht erreichen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)
Also, ich finde, die Tatsache, dass man noch nicht 2025 vor sich hat, sondern 2018, spricht nicht dagegen, dass man erstens etwas Vernünftiges macht und sich zweitens bessere Ziele setzt; so ist es ja nicht.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, das alles wird Geld kosten. Angesichts der gewaltigen Ausgaben der Länder und Kommunen in der Flüchtlingsintegration wird der Bund den Ländern gerade auch bei den Bildungsausgaben helfen müssen. Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildung ist eine echte Wachstumsbremse, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn man nicht wieder ins Schuldenmachen einsteigen will, kann man Geld eben nur einmal ausgeben: entweder für die Erfüllung gigantischer Steuersenkungsversprechen oder für Investitionen in die Zukunft des Landes.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oder für beides!)
Ich rate also zur Zurückhaltung mit unrealistischen Ankündigungen und zu Augenmaß und Weitsicht.
Wir haben gestern übrigens viel Richtiges über die Gefahren des rechten Populismus gehört. Zu dessen Nährboden zählen auch unhaltbare Wahlversprechen, die nach Wahlen schnell wieder einkassiert werden. Auch das sollten wir uns miteinander ersparen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich bin gespannt, was bei euch kommt!)
– Ja, das haben wir alle schon gemacht, jede Partei – manche mehr, manche weniger. Ich rate davon ab. Lieber wenig versprechen und das halten – das tun wir in dieser Legislaturperiode übrigens –,
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das war ein wichtiger Nebensatz!)
als wieder neu damit anzufangen, den Staat arm zu machen, die Wahlversprechen hinterher nicht einlösen zu können und damit die Enttäuschung vorzuprogrammieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen wir mal, was Sie bei der Rente versprechen!)
Meine Damen und Herren, wir brauchen Investitionen in den wirtschaftlichen Erfolg, aber übrigens auch in mehr Sicherheit. Mehr Sicherheit hat viele Facetten: soziale Sicherheit, bezahlbarer Wohnraum, auskömmliche Renten, gute Schulen, lebendige Städte und Gemeinden – übrigens auch dort, wo der demografische Wandel und das Fehlen von Arbeitsplätzen zu weniger Einwohner führen; auch dort darf die öffentliche Daseinsvorsorge nicht verschwinden – und natürlich innere Sicherheit.
Es bringt nicht viel, auf Zahlen zu verweisen, da die Experten wissen, dass wir dem Aufgabenzuwachs der Bundespolizei seit circa elf Jahren nicht mit Personalaufwuchs begegnet sind. Gut, dass wir das jetzt ändern. Ich finde das vernünftig. Die SPD hat den Antrag gestellt, die Union findet das richtig. Wir sind hier auf einem guten Weg, sollten aber nicht so tun, als hätten wir in der Vergangenheit durch das sozusagen Armsparen des Staates nicht vielleicht auch bei der Polizei Fehler gemacht.
(Beifall bei der SPD)
Die Länder haben hier zum Teil eingespart – Gott sei Dank nicht alle –, und die Bundespolizei hat – das können Sie bei der Gewerkschaft der Polizei nachlesen – 14 000 Stellen zu wenig. By the way: Expertin für die innere Sicherheit ist die Bundespolizei und nicht die Bundeswehr. Die muss man stärken!
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber wir haben nicht reduziert!)
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Wir müssen in einer Lage, in der wir binnen eines Jahres mehr als 1 Million Flüchtlinge aufgenommen haben, die Gesellschaft zusammenhalten. Das ist die eigentliche Schicksalsfrage. Weniger denn je dürfen wir eine gespaltene Gesellschaft der Gewinner und Verlierer hinnehmen. Weniger denn je dürfen wir die soziale Stabilität und den inneren Frieden aufs Spiel setzen.
Solidarität haben die Menschen verdient, die Schutz bei uns suchen, aber nicht nur diese. Konkurrenz am Arbeitsmarkt und am Wohnungsmarkt sowie Sorgen um die Qualität der Schulen und um die Kriminalität in schwierigen Stadtteilen betreffen vor allem die Menschen in Deutschland, die nicht viel Geld haben. Darauf hinzuweisen, heißt nicht, den Rechtspopulisten das Wort zu reden, sondern bedeutet, Menschen ernst zu nehmen, und vor allem bedeutet es, aktiv dafür zu sorgen, dass Menschen im Alltag erfahren, dass niemand vergessen wird; denn Politik lebt vom aktiven Handeln und nicht von Durchhalteparolen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten plädieren seit fast zwei Jahren für den Solidaritätspakt im Sinne einer doppelten Integration: also die integrieren, die kommen, und die zusammenhalten, die da sind. Das ist kein Ausspielen von Flüchtlingen gegen Einheimische und übrigens erst recht nicht erbarmungswürdig, sondern das genaue Gegenteil: Das ist der einzige Weg, die Gesellschaft zusammenzuhalten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir fragen uns, wie vielen Menschen wir helfen und wie viele wir auf Dauer in Deutschland aufnehmen können. Das Maß, in dem wir fähig und in der Lage sind, den Zusammenhalt aller zu sichern, ist das Maß, das bestimmt, wie viele Menschen wir hier aufnehmen können. Deshalb dürfen wir nicht in die Falle gehen, den Staat erneut zu schwächen, indem wir ihn durch allzu große Versprechen entweder finanziell handlungsunfähig machen oder erneut in die Verschuldung treiben.
Eine immer heterogener und vielfältiger werdende Gesellschaft braucht Orientierungspunkte. Der wichtigste Orientierungspunkt ist ein starker und handlungsfähiger Staat. 30 Jahre lang galt es als richtig, den Staat zu schwächen: weniger Steuern, weniger öffentliche Daseinsvorsorge, mehr Privatisierung, mehr Liberalisierung.
Ich bin weit davon entfernt, alles wieder umkehren zu wollen; denn auch ein überbordender und übergriffiger Staat fördert den Frust und hemmt die wirtschaftliche Dynamik. Wir müssen aber eine neue Balance finden. Die Lebensverhältnisse in Deutschland sind heute jedenfalls alles andere als einheitlich, und auch das ist einer der Gründe für die Verunsicherung im Land, die sich die Falschen versuchen zunutze zu machen.
Meine Damen und Herren, Zusammenhalt in Deutschland ist vor allen Dingen vor Ort gelebter Zusammenhalt. Deswegen war es richtig, dass diese Regierung für die Kommunen das größte Entlastungspaket in der Geschichte der Republik geschnürt hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Bis 2019 wird sich die Finanzierungsentlastung der Kommunen auf mehr als 30 Milliarden Euro erhöhen. Ich weiß nicht, ob es in der Geschichte der Republik etwas Ähnliches gegeben hat. Ich glaube nicht. Leistungen der Daseinsvorsorge, intakte Quartiere, das alles hat mit Ordnung und Sicherheit zu tun. Es gibt kein solidarisches Land ohne solidarische Städte und Gemeinden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir die Richtung in der sozialen Marktwirtschaft wieder gut vorgegeben haben. Die soziale Marktwirtschaft überlässt eben die Gestaltung der Gesellschaft nicht allein denjenigen, die sich wirtschaftlich stark fühlen. Politik ist kein Zuschauer. Sie darf nicht nur abwarten. Sie muss sich einmischen und Regeln durchsetzen.
Auch deshalb haben wir in der Energiewende trotz harter Lobbykämpfe endlich dafür gesorgt, dass sie in verlässliche Bahnen kommt.
(Beifall bei der SPD)
Wir haben sie zum ersten Mal in den europäischen Binnenmarkt eingebettet und zugleich für die stromintensive Industrie sowie für die industrielle Eigenstromversorgung Sicherheit geschaffen, damit sie nicht in Gefahr geraten. Die im internationalen Wettbewerb stehende Stahl- und Chemieindustrie mit ihren Hunderttausenden Arbeitsplätzen bekommt Klarheit. Das ist ein zentrales Stück Industriepolitik, mit der unsere produzierende Wirtschaft im europäischen Wettbewerb gestärkt wird.
Meine Damen und Herren, Politik in der sozialen Marktwirtschaft muss sich eben einmischen, wenn es um das Gemeinwohl geht. Das galt übrigens auch beim Thema Edeka/Tengelmann. Ich will das nur am Rande streifen, wir werden darüber noch im Ausschuss reden. Aber eins ist doch klar: Wenn es einen Gemeinwohlgrund gibt, dann doch wohl den, 8 000 bis 16 000 Arbeitsplätze zu sichern.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
Das gilt allemal dann, wenn es gut bezahlte Arbeitsplätze sind und diese tarifvertraglich abgesichert sind. Dass man dafür Gespräche führen muss, die man nicht jedem sofort in der Art von Protokollen mitteilt, war in bisherigen Kartellverfahren üblich. Insofern werden wir sehen, wie der Bundesgerichtshof darauf reagiert.
(Zuruf der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wichtig finde ich nur, Frau Dröge: Die Tarifverträge gehen über das hinaus, was ich an Auflagen gemacht habe.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir völlig einig!)
Das geht so weit, dass die befristeten Arbeitsverhältnisse abgesichert werden, sie werden zu festen Arbeitsverhältnissen. Es geht so weit, dass auch die Arbeitsplätze bei Edeka in den Tarifverträgen gesichert werden.
(Beifall bei der SPD)
Ich will denjenigen sehen, der das ernsthaft infrage stellen kann. Deswegen bin ich ganz gelassen.
Eins ist klar: Wenn man als Minister in solchen Fällen nichts tut, dann handelt man relativ risikofrei.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch nicht!)
Wenn man sozusagen oben vom Turm beobachtet, wie den Menschen etwas angetan wird, dann geht man vielleicht selbst ein geringeres Risiko ein. Dafür steigt das Risiko bei den Betroffenen. Ich jedenfalls glaube, dass wir nicht in der Politik sind, um unsere Risiken zu minimieren, sondern um die Risiken von Menschen und vor allen Dingen von abhängig Beschäftigten zu verringern. Das haben wir hier getan.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, die soziale Marktwirtschaft wird natürlich nur dann ernst genommen, wenn sie sich auch im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung durchsetzt. Konkret: Große, renommierte, internationale Unternehmen können sich nicht so benehmen wie Feudalherren und selbst entscheiden, wie sie mit ihrer Pflicht, zum Gemeinwohl beizutragen, umgehen wollen. Es geht nicht darum, einzelne Konzerne wie Apple, Amazon oder Starbucks an den Pranger zu stellen. Darum geht es gar nicht. Es geht darum, das System zu verstehen und die Komplizenschaft abzustellen.
Es ist richtig, wie der Bundesfinanzminister ausgeführt hat, dass wir beim Informationsaustausch der Steuerbehörden Fortschritte gemacht haben. Die zuständigen Behörden müssen die Gelegenheit dann allerdings auch ergreifen. Wenn Apple in Deutschland ein iPhone verkauft, macht das Unternehmen mit jedem verkauften Gerät einen hohen Gewinn. Dieser Gewinn wird verschoben, um der Besteuerung zu entgehen. Die in Deutschland registrierte Apple-Gesellschaft in Frankfurt, die für den Verkauf von Apple-Geräten zuständig ist, verdient damit fast eine halbe Milliarde Euro. Der Gewinn hingegen beträgt nur etwa 10 Millionen Euro. Apple zahlt in Europa 0,005 Prozent Steuern. Dass das oberfaul ist, liegt auf der Hand. Und es ist ein Hohn für jeden Facharbeiter und jeden Handwerksmeister, der brav seine Steuern zahlt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir sind also aufgerufen, das auch in Europa zu ändern. Das kann nicht die Aufgabe der Wettbewerbskommission sein.
Natürlich geht es auch darum, dass wir in Europa aufpassen müssen, nicht abgehängt zu werden. Deswegen bin ich sehr dafür, dass Europa auch Freihandelsverträge schließt, die es uns ermöglichen, auch die Standards sozialer Marktwirtschaften im internationalen Handel einzuführen. Dafür muss man sich in das Wagnis von Verhandlungen hineinbegeben. Dass das bei TTIP aus meiner Sicht in diesem Jahr nicht mehr zu erreichen ist, habe ich hinreichend oft gesagt. Dass ich das bedauere, ist, glaube ich, auch klar. Denn ich fand die Verhandlungen über diese Abkommen dringend nötig. Aber es bringt auch nichts, mit den Verhandlungen über TTIP so umzugehen wie in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, nämlich immer „Bravo!“ zu rufen, und in Wahrheit steht das Abkommen sozusagen ziemlich nackt da.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, na!)
Wir werden sehen, ob nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Neustart gelingt.
Herr Minister, –
Ja, ich komme zum Schluss.
– darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Freude Ihrer Fraktion über Ihre Rede vielleicht durch die Inanspruchnahme der Redezeit der nachfolgenden Kolleginnen und Kollegen getrübt wird?
(Heiterkeit bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das macht nichts! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir haben ein großes Herz!)
Herr Präsident, ich will nicht sagen, dass sie Kummer gewohnt sind …
(Heiterkeit bei der SPD)
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass auch das dazugehört: den Standort Europa zu stärken und die soziale Marktwirtschaft durchzusetzen, nicht nur bei uns, sondern auch Schritt für Schritt in Europa und global. Dafür brauchen wir vor allen Dingen die Kombination aus wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Sicherheit. Es vereint das europäische Modell von Freiheit und Verantwortung. Das ist übrigens nichts anderes als die Leitkultur unserer Wirtschaftsverfassung.
Ich finde, wir haben in unserem Land mit viel Erfolg in den letzten drei Jahren dieser Leitidee unserer Wirtschaftsverfassung zu neuer Geltung verholfen. Ich glaube, das sollte uns auch in den kommenden Jahren leiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU)
Nächster Redner ist der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6999474 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 187 |
Tagesordnungspunkt | Wirtschaft und Energie |