08.09.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 187 / Einzelplan 11

Andrea Nahles - Arbeit und Soziales

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit fast 140 Milliarden Euro umfasst das Budget für Arbeit und Soziales, Einzelplan 11, in diesem Jahr 42 Prozent des Bundeshaushalts. Das sage ich nicht, um zu kokettieren, sondern das ist eine wichtige Botschaft für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes; denn es zeigt, dass wir in unserem Land Ernst machen mit dem, was Auftrag der Verfassung ist.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Das Soziale ist nicht nur Garnitur obendrauf, sondern das Soziale ist eine wesentliche Kernaufgabe unseres Landes. Das zeigt auch dieser Haushaltsentwurf. Darum ist es weder so, dass die Regierung unsere Zukunft verpulvert, wie es Die Welt kürzlich postulierte, noch müssten „alle Alarmglocken läuten“, wie der Herr Kollege von Stetten meint. Nein, die Alarmglocken müssten läuten, wenn wir als Staat nachlassen würden, für Ausgleich zu sorgen, wenn wir nachlassen würden, für Gerechtigkeit, für soziale Sicherung und Zusammenhalt zu sorgen. Das wäre alarmierend.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gerade jetzt erleben wir, dass der Zusammenhalt in unserem Land auf die Probe gestellt wird. Gerade jetzt wird spürbar, dass Solidarität eben keine Selbstverständlichkeit ist. Gerade in diesen Tagen fühlen sich die obenauf, die einen Keil zwischen die Menschen in unserem Land treiben wollen, die die Sorgen ausnutzen und Ressentiments und Ängste schüren – mit anderen Worten: die spalten.

Angst schüren und aus der Unsicherheit der Menschen politisches Kapital schlagen – das ist der Weg der AfD. Die Bundesregierung macht genau das Gegenteil: Wir setzen auf die Zukunft. Wir wollen gestalten: Fortschritt und soziale Gerechtigkeit. Diese Regierung hat gerade in den letzten Jahren sehr viel getan, um das Leben der Menschen in diesem Land im Alltag ganz konkret zu verbessern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rentenreform, aber auch die Stärkung der Tarifautonomie und nicht zuletzt eben unser Versuch, in schwierigen Zeiten einfach vernünftig und auf einem klar demokratischen und integrativen Kurs zu bleiben: Das ist die Politik, die wir machen; denn unsere Kraft liegt im Zusammenhalt.

Dort, wo sich Frauen und Männer, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, junge und alte Menschen, Menschen mit und ohne Behinderung, Alteingesessene und neu Hinzugekommene zusammentun, kommen die Dinge in Bewegung und erreichen wir dauerhaft sozialen Frieden und Wohlstand. Für mich ist es ganz einfach: Zusammen ist man eben am stärksten. Wer mit dem Finger auf andere zeigt und Politik gegen Schwächere und Minderheiten macht, wer Ausgrenzung statt Zusammenhalt propagiert, der schwächt unser Land und damit am Ende auch uns selbst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für mich ist ganz klar – das ist für die Opposition in diesen Tagen natürlich sehr schwer –, dass wir stark sind.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

Die wirtschaftliche Lage unseres Landes ist gut. Wir haben schon über Jahre stetiges Wachstum.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Was die SPD unter der Führung der Union alles kann, ist schon beeindruckend!)

Die Beschäftigung – ich kann mich als Abgeordnete auch noch an andere Zeiten erinnern –

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Ich auch!)

boomt. Ich betone: boomt!

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Ja! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Woran liegt das?)

Trotz der Belastungen auch durch die Hinzugekommenen haben wir weiterhin mehr offene Stellen und eine höhere Beschäftigung. Wir hatten seit Jahrzehnten nicht eine so hohe Anzahl an Erwerbstätigen;

(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Viele haben sogar zwei oder drei Stellen!)

seit 25 Jahren war die Arbeitslosigkeit nicht so niedrig wie jetzt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Es ist aber manchmal eben schwer, das einfach mal zu würdigen, obwohl es schnell gesagt wäre. Wenn es anders wäre, dann hätten wir hier Debatten. Für die Leute draußen im Land ist das aber vielleicht die wichtigste Nachricht überhaupt.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und draußen scheint die Sonne!)

Ich sage deswegen im Übrigen auch: Das heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und dass es nichts mehr zu tun gibt. – Das ist ja Quatsch. Wir nehmen uns gerade für diesen Herbst und Anfang des nächsten Jahres große Gesetzespakete vor.

In wenigen Wochen werde ich ein Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorlegen, in dem es darum geht, die gesetzliche Rente als tragenden Pfeiler des Rentensystems in Deutschland zu stabilisieren. Das wird ganz klar ein ganz zentraler Punkt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Darüber hinaus werden wir, wie ich hoffe, nach 30 Jahren – in 2020 wird das der Fall sein – das letzte Sozialsystem, bei dem die Ost-West-Angleichung noch nicht gelungen ist, reformieren und ein gleiches Rentenrecht in Ost und West durchsetzen. Ich sage aber: Ich warte noch darauf, dass die Meinungsbildung der CDU und der CSU in dieser Frage abgeschlossen wird.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was denn?)

Vor allem in Richtung der Linkspartei sage ich aber auch: Es geht natürlich nicht, nur die Rosinen herauszupicken. Gleiches Recht bedeutet zwar, dass der Rentenwert von 94 auf 100 Prozent erhöht wird, gleichzeitig ist dann aber auch eine Höherbewertung der Entgeltpunkte nicht mehr möglich.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Löhne im Osten sind noch um 20 Prozent niedriger!)

Das muss man ganz eindeutig sagen. Gleiches Recht heißt gleiches Recht und nicht gleiches Recht mit Ausnahmen für einige in Ostdeutschland. Das kann es am Ende nicht geben.

(Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Darüber müssen wir dann hier streiten; das kann es aber auf keinen Fall sein.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir werden daneben dafür sorgen – Herr Schäuble und ich sind hier in intensiven Gesprächen –, dass auch kleine und mittlere Unternehmen – in diesen ist die betriebliche Altersvorsorge noch nicht sehr weit verbreitet – ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Zukunft eine betriebliche Altersvorsorge anbieten können. Da arbeiten wir eng und vertrauensvoll zusammen.

Es geht natürlich auch um Armutsprävention. Die Gruppe, die zurzeit das größte Armutsrisiko trägt, sind die Erwerbsgeminderten, 1,8 Millionen Menschen. Sie dürfen nicht vergessen werden. Außerhalb von Fachzirkeln höre ich über diese Gruppe faktisch nie etwas. Aber es sind diejenigen, die am meisten von Altersarmut betroffen sein werden. Auch das wird auf jeden Fall ein Teil des Gesamtkonzeptes werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie sehen also: Allein in diesem Bereich gibt es eine ganze Menge zu tun.

Wir werden darüber hinaus in der nächsten Sitzungswoche zwei wesentliche Gesetzentwürfe einbringen. Auf unserer Grundphilosophie „Stärkung der Tarifautonomie“ basiert unser Gesetzentwurf zu Leiharbeit und Werkvertragsarbeit, mit dem zum ersten Mal eine Höchstverleihdauer geregelt wird und der zum ersten Mal dafür sorgt, dass die Betriebsräte Bescheid wissen, weil sie ein Recht auf Information erhalten.

Ich sage noch etwas. Dieses Gesetz wird mit dem Missstand Schluss machen, dass Unternehmen Leiharbeiter gezielt als Streikbrecher einsetzen, um damit Tarifverhandlungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Es ist kein Zufall, dass in dem Jahr, in dem bei der Post massenweise Streikbrecher eingesetzt wurden, der niedrigste Tarifabschluss des ganzen Jahres genau in diesem Bereich abgeschlossen wurde. Damit ist Schluss, wenn wir dieses Gesetz gemeinsam verabschieden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen nicht darüber reden, dass wir in diesem Zusammenhang auch mit dem Mindestlohn Zeichen gesetzt haben. Zum neuen Jahr 2017 wird der Mindestlohn auf 8,84 Euro steigen. Das haben nicht wir entschieden, sondern das haben wir, wie es unserer Überzeugung entspricht, den Tarifparteien im Rahmen einer Mindestlohnkommission überantwortet. Das ist kein politischer Mindestlohn, sondern er basiert auf dem, was die Sozialpartner uns vorschlagen. Ich bleibe dabei: Es hilft nichts – das sage ich besonders in Richtung Linkspartei –, den Menschen immer etwas von 10, 12 Euro oder anderen Fantasiezahlen zu erzählen. Der neu festgesetzte Mindestlohn basiert auf Fakten und Sozialpartnerschaft.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 10 Euro sind keine Fantasiezahlen! Sie schicken die Leute in die Altersarmut!)

Das ist der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir werden in den nächsten Wochen den Armuts- und Reichtumsbericht in seiner ersten Fassung auf den Weg bringen. Was heißt das? Es werden erst einmal die statistischen Grundlagen vorgelegt. Wir haben hier von Anfang an eine klare Politik gemacht. Wir haben diese Zahlen transparent und allen zugänglich gemacht. Es gab in diesem Zusammenhang viele Verschwörungstheorien. Sie entbehren aber jeder Grundlage. Wir werden Ihnen und allen, die dies wollen, die Gelegenheit geben, sich die Daten anzusehen.

Reichtum kommt in Deutschland immer weniger aus eigener Arbeit – das bedrückt mich –, sondern wird heute meist vererbt. Das mag für manche erfreulich sein; für unser Land insgesamt ist es sehr bedenklich. Es führt dazu, dass sich Schichten verfestigen, dass Aufstieg, die Triebfeder für den Einsatz in Beruf und Wirtschaft, seltener und schwerer wird. Deswegen ist das eine Sache, die wir so nicht stehen lassen können. Dafür wird uns dieser Armuts- und Reichtumsbericht wichtige Argumente liefern.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin daran besonders interessiert, weil es Zusammenhänge mit anderen Programmen, zum Beispiel von Barbara Hendricks, gibt. Wir wollen mit Blick auf die soziokulturellen Verfestigungen in bestimmten Stadtteilen, die jeder von uns kennt, selbst in kleineren und mittelgroßen Städten, an die Wurzel des Übels gehen, um zu verhindern, dass bestimmte Gruppen und Stadtteile völlig abgehängt werden. Das wird einer der Punkte sein, die uns beschäftigen.

Wir haben in diesem Zusammenhang auch über Langzeitarbeitslosigkeit zu reden. Ich bin froh, dass wir in diesem Haushalt den Ansatz für das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, das auf den öffentlichen Beschäftigungssektor zielt, verdoppeln können. Immerhin: Das ist eine Möglichkeit – –

(Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!)

– Frau Pothmer, da haben Sie vollkommen recht. Ich bin immer offen für eine weitere Mittelsteigerung. Immerhin: Der Ansatz wird verdoppelt. Wir können nun ganz konkret mit diesem Programm Langzeitarbeitslose, die einen Neustart verdienen, besser unterstützen.

Daneben haben wir auch die Integration von Flüchtlingen zu leisten. Dazu haben wir bereits das Integrationsgesetz durch den Bundestag gebracht. Aber auch in diesem Haushalt stehen zusätzlich 3,25 Milliarden Euro zur Sicherung des Lebensunterhaltes und – vor allem das ist wichtig – 1,9 Milliarden Euro für die aktive Eingliederung der Flüchtlinge bereit.

Wir werden die Anzahl der berufsbezogenen Sprachkurse bis Anfang des nächsten Jahres von 20 000 auf 200 000 verzehnfachen. Wenn noch mehr Bedarf besteht, dann – da bin ich sicher –, wird diese Bundesregierung auch handeln. Deutsch lernen ist nun einmal der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Wir schaffen außerdem in diesem Haushalt für Flüchtlinge die Möglichkeit, über die Integrationsmaßnahmen etwas Sinnvolles zu tun, solange sie faktisch leider noch zu lange im Regelkreis des Asylbewerberleistungsgesetzes festhängen, weil es mit der Statusklärung so lange dauert. Dieses Programm gilt bereits ab August dieses Jahres. Es wird also bereits umgesetzt. Das sind wichtige Punkte.

Aber am meisten knabbern wir zurzeit daran, dass wir auch den Nachweis vorhandener Qualifikationen klären müssen. Oft heißt es nur: Sie haben keine Urkunde der IHK in der Tasche. – Wenn Flüchtlinge von Syrien hierherkommen, ist das auch nicht zu erwarten. Trotzdem können sie etwas. Umso wichtiger ist es, dass wir es anbieten, sie zu erproben, und dass die IHK und Handwerkskammern mitspielen. Das läuft auch. Diese Erprobungs- und Anerkennungsverfahren halte ich für ganz zentral, um die vorhandenen Potenziale zu heben.

Nicht zuletzt haben wir Hürden abgebaut, zum Beispiel die Vorrangprüfung. Wir haben den Ländern die Entscheidung selber überlassen, auch regional. Das Ergebnis ist, dass in 133 der 156 Agenturbezirke der Bundesagentur für Arbeit die Vorrangprüfung ausgesetzt wurde. Das ist sehr gut, weil es wieder eine Hürde weniger ist, um diese Menschen in Arbeit zu integrieren, und gleichzeitig auf regionale und landesspezifische Bedürfnisse eingeht. Denn es gibt nun einmal auch Regionen, für die das keine schlaue Idee ist, und diese werden damit auch berücksichtigt.

Wir werden in diesem Herbst – das ist mein letzter Satz – neben dem, was ich bereits genannt habe, auch das Bundesteilhabegesetz anpacken.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat ja hohe Priorität! Als letzter Satz!)

Dafür werden zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt, von 157 Millionen Euro für 2017 aufwachsend bis auf 700 Millionen Euro. Die Entlastung der Kommunen um 5 Milliarden Euro findet statt – auf anderem Wege; diese Mittel sind „on top“. Damit können wir die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf neue, wie ich finde, bahnbrechende Weise weiterbringen. Auch darüber werden wir gesondert beraten.

Sie sehen also: Diese Regierung ist handlungsfähig. Wir arbeiten mit ganz konkreten Anstrengungen für die Menschen. Die nötigen Mittel dafür stehen bereit. Das ist auch der guten wirtschaftlichen Lage zu verdanken, sonst würden wir über ganz andere Fragen diskutieren. Umso besser; das fügt sich gut. In diesem Sinne haben wir noch einen heißen Herbst.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6999868
Wahlperiode 18
Sitzung 187
Tagesordnungspunkt Arbeit und Soziales
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