08.09.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 187 / Einzelplan 11

Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Arbeit und Soziales

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Stracke, ich fange vielleicht so an: Wenn die Töne aus Bayern in Zukunft ein bisschen moderater und weniger populistisch wären – im Moment ist das echt unerträglich –, dann würden wir alle Ihnen wieder lieber zuhören; davon bin ich überzeugt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Damit bin ich auch schon beim Thema; denn dieser Haushalt – da findet ja nur noch Wahlkampf statt in diesen Zeiten –

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das finde ich ein bisschen frech!)

steht wahrlich unter besonderen Vorzeichen. Hier erleben wir, dass das verheerende Ergebnis der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zu noch übleren Scharmützeln innerhalb der Großen Koalition führt. Deswegen habe ich Sie gerade angesprochen.

Es finde es unverantwortlich, wenn hier versucht wird, die Wahlerfolge der AfD mit der Flüchtlingspolitik zu erklären. Die Aufnahme der vielen Geflüchteten im letzten Jahr war weder falsch, noch überfordert sie uns. Sie war menschlich dringend geboten. Und was wäre die Alternative gewesen? Die Menschen im Dreck verrecken lassen?

Die AfD hat es geschafft, mit nationalistisch-rassistischen Forderungen den Frust vieler Menschen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Aber jetzt mal ehrlich: Das Potenzial rechtspopulistischer Wähler gibt es doch schon lange, viel länger als die sogenannte Flüchtlingskrise. Das sind nämlich jene, die sich schon längst von den etablierten Parteien und unserem demokratischen System verabschiedet haben. Sie sind an vielen Wahlsonntagen schlicht und ergreifend zu Hause geblieben, oder sie haben ihre Stimmzettel ungültig gemacht, oder sie haben die NPD oder andere Splitterparteien gewählt.

In Mecklenburg-Vorpommern lässt sich das auch gut sehen, wenn man einmal hineinschaut: Die Wahlbeteiligung ist um 10 Prozent gestiegen. So etwas kennen wir eigentlich gar nicht mehr. Die Wahlbeteiligung sinkt ja eigentlich immer. 55 000 von ihnen sind zur AfD gegangen. Sie hat am meisten bei den Nichtwählern geholt.

Das muss uns doch allen zu denken geben. Die Erosion der demokratischen Parteien schreitet seit langem munter voran, ganz unabhängig von den Geflüchteten. Aber diese bieten sich – wie immer schon in der Geschichte – wie alle Minderheiten und Schutzlosen wunderbar als Sündenböcke an.

Vor allem an Teile der Union, aber auch die Sozialdemokratie gerichtet, sage ich: Hört auf damit, aus taktischen Gründen das Geschäft der AfD zu verrichten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen keine Obergrenzen. Und der Satz: „Wir schaffen das“ war keineswegs naiv, sondern ohne Alternative. Aber er muss Konsequenzen haben. Es braucht Engagement, und es braucht auch Geld, und hier komme ich zu dem Problem dieses Haushalts.

Die Menschen in diesem Land erwarten von ihrer Regierung zu Recht, dass sie gestaltet, Gräben überwindet und den sozialen Zusammenhalt stärkt. Sie machen das Gegenteil. Sie verwalten nur den Status quo, und das ist ein richtig großes Problem;

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber gelesen haben Sie den Haushalt?)

denn so versöhnen Sie nicht, sondern Sie spalten weiter.

Gestern habe ich viele Reden in diesem Hohen Haus gehört. In vielen dieser Reden kam das Wort „Bundesteilhabegesetz“ vor. Schöne Sätze haben Sie gesprochen: Wir werden die Rechte von Menschen mit Behinderung stärken. Oder: Mit dem Bundesteilhabegesetz werde der Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Teilhabe vollzogen. Und so weiter.

Wenn Sie tatsächlich daran glauben, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie mit dieser Einschätzung mittlerweile ziemlich allein dastehen. Seit Monaten brodelt der Protest, nicht nur in Berlin, sondern an vielen Orten in dieser Republik. Vielleicht erinnern sich manche an den Mai dieses Jahres, als ganz viele Rollifahrer sich hier am Reichstagufer angekettet haben, um zu protestieren gegen ein Gesetz, das für sie keinerlei Verbesserungen gebracht hat.

Aber all das ist gegenüber dem, was wir jetzt mit dem Bundesteilhabegesetz erleben, kalter Kaffee. Die Menschen wissen das. Deshalb ist der Gegenwind so groß, und der Protest wird weiter zunehmen. Warum? Sie haben keinen Entwurf für ein Teilhabegesetz vorgelegt, sondern ein Spargesetz, eine Mogelpackung, auf die Sie „Inklusion“ geschrieben haben. Genau da liegt der Hund begraben. Deshalb laufen behinderte Menschen Sturm.

Und – schon mitbekommen? – jetzt steht auch noch Herr Seehofer an ihrer Seite – ich zitiere –: Er werde das Menschenmögliche tun, was in bayerischer Macht liegt, um das Gesetz zu verbessern und Verschlechterungen gegenüber der geltenden Rechtslage zu verhindern. – Das sollte Ihnen bitte zu denken geben.

Ich möchte an dieser Stelle kurz aufzeigen, was eigentlich passieren wird. Es werden zukünftig weniger Menschen Unterstützung bekommen. Nur wer in mindestens fünf von neun Lebensbereichen Unterstützung braucht, soll sie auch bekommen. Warum fünf? Warum nicht vier oder sechs oder ein Lebensbereich?

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Oder warum warten wir nicht erst einmal auf einen Beschluss?)

Das haben Sie bisher nicht geklärt. Selbst Herr Schummer, der behindertenpolitische Sprecher der Union – den habe ich vor zwei Wochen beim LVR in Köln getroffen –, hat diese Frage gestellt und gesagt: Ich verstehe nicht: Warum fünf Kriterien, warum nicht eine andere Zahl? Warum überhaupt diese Kriterien? – Selbst Herr Schummer, der behindertenpolitische Sprecher der Union, versteht nicht, was da gemacht wird. Aber da kann und will ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Das wäre zu technisch.

Reden wir besser darüber, was diese Regelung, wenn sie in Kraft treten würde, für die Menschen bedeutet.

Nehmen wir beispielshaft den psychisch erkrankten 33-jährigen Mann. Er kann sich theoretisch natürlich waschen und auch einen Staubsauger bedienen, um seine Wohnung sauber zu halten. Er tut es aber nicht. Er könnte mobil sein, kommunizieren, lernen und sich selbst versorgen, natürlich, aber er tut es nicht. Also bekommt er keine Unterstützung mehr. Was passiert? Seine Wohnung wird verlottern, er wird sich nicht mehr waschen, er wird Konflikte haben – vielleicht auch in der Nachbarschaft –, und irgendwann wird er womöglich auf der Straße landen. Sie können sich das ausmalen. Wahrscheinlich kennen alle hier Menschen, die diese Probleme haben.

Vielleicht kann er dem entgehen, indem er sich selbst so darstellt, als könne er sehr wenig. Er kann versuchen, nachzuweisen, warum er in möglichst vielen Lebensbereichen unfähig ist. Ist es das, was Sie wollen? Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir alle wollen. Wir wollen mehr Teilhabe, und deswegen muss das Gesetz an dieser Stelle verändert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])

Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, ­Verena Bentele, hat auf ihrer Facebook-Seite geschrieben, dass sie sich ein aktives Parlament wünscht. Für unsere Seite kann ich sagen: Wir wollen das sein. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen diesen Entwurf an ganz vielen Stellen verbessern, damit dieses Gesetz am Ende seinen Namen verdient, Teilhabe ermöglicht wird und wir als Gesellschaft ein Stück vorankommen.

Ich sage Ihnen auch: Das gibt es nicht umsonst, und deswegen müssen wir das hier in den Haushaltsberatungen auch diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ralf Kapschack von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6999903
Wahlperiode 18
Sitzung 187
Tagesordnungspunkt Arbeit und Soziales
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