08.09.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 187 / Einzelplan 10

Friedrich OstendorffDIE GRÜNEN - Ernährung und Landwirtschaft

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerade findet in Warnemünde die Agrarministerkonferenz in Begleitung von energischen, wütenden Bauernprotesten statt. Ich finde, wir finden: sehr zu Recht.

Vor 35 Jahren haben meine Frau und ich über unser Scheunentor geschrieben: „Bleibt auf dem Lande und wehret euch täglich!“ Das war das Motto von uns Jungbauern und Jungbäuerinnen gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft und für den Erhalt unserer Höfe. Es war und ist die Erklärung unserer Entschlossenheit, um jeden einzelnen Hof zu kämpfen.

Seit 1975 sind über 600 000 Bauernhöfe in Deutschland verschwunden, jährlich etwa 2 Prozent der Betriebe. Seit dem Ende der Milchquote am 1. April 2015 haben jeden Tag 10 bis 15 Milchviehbetriebe aufgegeben – das sind 5 Prozent, Zahl ständig steigend –, Tausende unwiederbringlich verlorene Höfe, Existenzen, prägende Teile des ländlichen Raums. Man muss es so deutlich sagen: Es findet kein Strukturwandel, kein Strukturbruch statt, das ist ein Gemetzel im ländlichen Raum, das niemanden kalt lassen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])

Der Soziologe Heinz Bude kennzeichnet solche Vorgänge und deren Opfer als Verbitterungsmilieu in der Mitte der Gesellschaft. Darüber sollten wir einen Moment nachdenken. Nur, manche, gerade auch Ökonomen, lässt das ja kalt. Sie können natürlich immer wieder gut erklären, warum der Strukturwandel notwendig ist. Die meisten Molkereien predigen das sowieso, und für den Bauernverband ist Wachsen oder Weichen fester Bestandteil seiner absurderweise immer schon bauernfeindlichen Ideologie.

Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben wir eigentlich Ökonomen, Molkereien und dem Bauernverband, zu entscheiden, was gut für unser Europa ist? Denn um Europa geht es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Europa steht nicht nur durch den Brexit vor einer Zerreißprobe. Europa ist nicht nur durch Schuldenkrise und Flüchtlingsdrama infrage gestellt, sondern auch durch das, was hier in der Landwirtschaft stattfindet. Wenn wir nicht nur London, Paris, Rom und Berlin als Europa betrachten, sondern auch Little Farmhill, Petit Paysanne, Villagio Piccolo oder Kleinbauerndorf, wenn wir anerkennen, dass es auch und vor allem die ländlichen Räume, die bäuerlichen Kulturlandschaften sind, die Europas vielbeschworene Identität ausmachen, dann müssen wir sagen, dass der aktuelle Zusammenbruch der jahrhundertealten Bewirtschaftung dieser ländlichen Räume nichts weniger als eine weitere Katastrophe für Europa ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Nichts weniger als den Zusammenbruch der bäuerlichen Landwirtschaft erleben wir gerade in Europa. Diese Entwicklung war nicht nur abzusehen, sondern sie war von den Befürwortern der Liberalisierung gewollt und geplant. Sie haben nach dem Markt geschrien, nun wütet der Markt ungezügelt in den europäischen Dörfern. Die, die gewarnt haben, wurden niedergemacht.

Minister Schmidt, ein großer, in die Zukunft denkender Mensch, sagte im März 2015  35 Cent für den Liter Milch voraus. Heute wurden vom Minister als Bonbon für die Landwirtschaft, als Hoffnung für die Zukunft, Gewinnglättung und höhere Freibeträge angekündigt. Ich verstehe das so, Herr Minister, dass diese Maßnahme sich nicht auf Verluste bezieht, sondern auf Gewinne. Da sollten wir die Landwirtschaft erst einmal wieder hinführen, dass sie Gewinne erwirtschaftet. Diesbezüglich sind Antworten erforderlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Verantwortlichen für das Sterben sind diese Bundesregierung und mit ihr zusammen der Deutsche Bauernverband. Bauernverband und CDU/CSU haben seit Jahren auf das hingearbeitet, was jetzt eingetreten ist: die chaotische und ungeregelte Explosion der Milchproduktion, der hemmungslose Preiskampf der Discounter und damit verbunden der totale Zusammenbruch des Marktes. Die Milch wird aktuell für 42 Cent, sogar gentechnikfrei, im Laden verramscht. Die Bauern erhalten oft nur 15 Cent – bei Kosten von 40 Cent.

Sie von der CDU/CSU haben alle Vorschläge für eine vernünftige Gestaltung des Milchmarktes – davon gab es nach Auslaufen der Quote genug – bekämpft wie der Teufel das Weihwasser. Eigene Vorschläge gab es leider keine. Rechtzeitig zum von Ihnen lange ersehnten Ende der Milchquote haben Sie auch noch den schwächsten Landwirtschaftsminister seit Bestehen der Bundesrepublik installiert,

(Alois Gerig [CDU/CSU]: Künast vergessen, oder wie? – Cajus Caesar [CDU/CSU]: Man soll nicht von sich auf andere schließen! – Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Wo bleibt der Respekt? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

der mit seiner vollkommen unzulänglichen, nichtstuenden Politik sicherstellt, dass die Zerstörungskraft des Marktes ungezügelt zur Geltung kommen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Zusammenbruch der bäuerlichen Milchwirtschaft ist der Zusammenbruch Ihrer Politik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Wenn wir unsere Verantwortung für Europa gemeinsam ernst nehmen, müssen Sie jetzt endlich das Höfesterben beenden. Das geht nur, wenn Sie sich endlich verabschieden von diesen marktradikalen Ideologien und den Markt so mitgestalten, dass unsere Höfe weiter bestehen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Erhaltung der bäuerlichen Betriebe muss oberste Prämisse der Agrarpolitik sein. Sonst ist Agrarpolitik überflüssig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Haushaltsvorschläge liegen auf dem Tisch: stärkere Förderung des biologischen Landbaus, der ländlichen Entwicklung, der tiergerechten Haltung, vor allem aber Stärkung der bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft.

(Kordula Kovac [CDU/CSU]: Das ist kein Allheilmittel!)

Wenn Sie endlich ohne Scheuklappen und ohne Rücksicht auf Lobbyinteressen an Ihre Arbeit gehen, können immer noch viele bäuerliche Betriebe und damit zumindest ein kleiner Teil der europäischen Identität gerettet werden.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Cajus Caesar [CDU/CSU]: Die Grünen sollten nicht immer nur Forderungen aufstellen und Auflagen machen!)

Vielen Dank. – Als Nächster hat für die CDU/CSU-Fraktion Alois Gerig das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6999940
Wahlperiode 18
Sitzung 187
Tagesordnungspunkt Ernährung und Landwirtschaft
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