09.09.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 188 / Tagesordnungspunkt 1

Ekin DeligözDIE GRÜNEN - Schlussrunde Haushaltsgesetz 2017

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede auf etwas eingehen, was der Kollege Ralph Brinkhaus zum Auftakt der Haushaltsdebatte gesagt hat. Er hat gesagt, in diesem Land zu leben, sei wie ein Lottogewinn; nie sei es Deutschland besser gegangen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! Sehr gut! Recht hat er!)

Deutschland steht gut da; das haben wir in allen Debatten mitbekommen. Aber, Herr Brinkhaus, wir sollten uns davon auch nicht blenden lassen. Nicht alle Menschen in diesem Land sind Lottogewinnerinnen und Lottogewinner im Brinkhaus’schen Sinn. Es gibt auch noch die anderen Menschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer das ausblendet, verzichtet auf jedwede Überlegung darüber, wie man das alles noch besser machen kann. Das ist doch eigentlich unser Auftrag in diesem Haus: nicht uns selbst zu loben oder zu feiern, wie Sie das tun, indem Sie sich selbst loben und feiern, sondern uns immer zu fragen, was wir besser machen können, damit es den Menschen in diesem Land jetzt und später besser geht, und damit auch nicht aufzuhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Unsere Kritik an Ihnen ist ganz eindeutig. Obwohl es uns gut geht, obwohl die Wirtschaftsdaten gut sind, obwohl die Zinsen niedrig sind und obwohl die Arbeitslosigkeit niedrig ist, lassen Sie die Menschen im Regen stehen. Die zentralen Probleme packen Sie nicht an. Das gilt auch für die Große Koalition. Sie machen eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das heißt, Sie machen nichts entschlossen, Sie führen nichts zu Ende. Wenn überhaupt, fangen Sie die Sachen nur an. Aber bei den Menschen kommt das am Ende nicht an. Das ist die größte Schwäche, und das ist unser größter Kritikpunkt bei Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Haase [CDU/CSU]: Wenn die Länder es nicht umsetzen!)

Wenn Sie mir das nicht glauben, will ich Ihnen zeigen, dass in diesem Land nicht jeder ein Lottogewinner ist. Ich will Ihnen die Bilder dieser Gesellschaft in Erinnerung rufen, die ich sehe und die uns den Auftrag erteilen, dass noch viel in dieser Gesellschaft zu tun ist. Schauen Sie sich einmal junge Familien an. Viele junge Familien wissen nicht, wie sie tagtäglich alle Bälle des Alltags überhaupt noch in der Luft halten können. Wenn in diesem Land alleinerziehend zu sein für Hunderttausende bedeutet, dass sie automatisch in Hartz IV landen, wenn in diesem Land ein Kind mit einem ausländischen Namen keine Ausbildungsstelle findet, keine Aufstiegs- und keine Bildungschancen hat,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch ein Zerrbild!)

wenn in diesem Land, obwohl der Arbeitsmarkt brummt, Langzeitarbeitslose noch immer nicht vom Abstellgleis wegkommen, wenn in diesem Land bei einer Flüchtlingsanerkennungsquote von 47 Prozent leider noch immer viele Asylbewerberinnen und Asylbewerber im Warteraum der Integration Platz nehmen müssen, wenn in diesem Land Menschen nach einem soliden Arbeitsleben Grundsicherung beziehen anstelle einer höheren Rente – das hat auch etwas mit Würde zu tun –, wenn in diesem Land die Kosten für das Gesundheitssystem nicht auf alle Schultern verteilt werden, sondern nur von einem Teil der Menschen finanziert werden,

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ich glaube, Sie leben in einem anderen Land!)

wenn in diesem Land bezahlbarer Wohnraum schwieriger zu kriegen ist, als im Lotto zu gewinnen, dann hat der Lottogewinn, von dem Sie reden, diese Menschen nicht erreicht. Dann hat dieses Land diese Menschen im Stich gelassen und der Lottogewinn ist an ihnen vorbeigegangen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Brinkhaus, wenn Sie sagen, dass ich das Land schlecht mache und alles dramatisiere, dann frage ich mich, warum Sie das alles gar nicht sehen.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein, Sie müssen es differenziert machen!)

Warum sind wir diejenigen, die das immer thematisieren? Warum sehen Sie das alles nicht? Ich mache das nicht schlecht,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)

sondern ich mache das, wofür ich gewählt worden bin. Ich übernehme Verantwortung in diesem Land, und zwar genau für diese Menschen, für Menschen, die auf der Schattenseite stehen. Damit sollten wir uns beschäftigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrike Gottschalck [SPD]: Na ja!)

Der Ökonom Marcel Fratzscher sagt in seinem Buch: In diesem Land brauchen wir mehr Investitionen in Integration, Infrastruktur und Innovation.

(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Der will die ganze Infrastruktur privatisieren!)

Er sagt: Wir haben eine Investitionslücke von 100 Milliarden Euro. – Was ist Ihre Antwort? Eine Investitionsquote von noch nicht einmal 10 Prozent; die wird in den nächsten Jahren auf 8,8 Prozent zurückgehen. Von einer Investitionsoffensive kann man hier wahrlich nicht sprechen, sondern eher von einem großen Stillstand dort, wo wir Investitionen am meisten bräuchten.

Kollege Schulz, als ich Ihrer Rede zugehört habe, konnte ich an ganz vielen Stellen sagen: Ja, genau, Sie haben vollkommen recht. Dann stellte sich mir aber eine Frage – es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Ihnen und mir; ich sitze in der Opposition, Ihre Partei sitzt in der Regierung –: Warum setzen Sie Ihre Vorschläge denn nicht um? Warum kämpfen Sie nicht dafür in der Koalition?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ich habe es schwerer!)

Dieser Haushalt ist ein Haushalt der verpassten Chancen. Er ist kein Haushalt, der dafür sorgt, dass es uns auch in Zukunft gut geht.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Wenn Sie jetzt von Entlastungen reden, dann kann ich Ihnen nur sagen: Schön guten Tag, darüber reden wir doch die ganze Zeit! – Es geht nämlich um Entlastungen dort, wo wir Entlastungen am meisten brauchen, im Alltag, im Leben der Menschen. Ja, wir brauchen gute Schulen, um Kindern auch morgen den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Ja, wir brauchen die Investitionen dort, wo der Schuh drückt. Dazu zählen Investitionen in bezahlbare Wohnungen, dazu gehört auch eine Garantierente, um Altersarmut in diesem Land zu bekämpfen und Menschen aus der Grundsicherung herauszuholen. Ja, wir wollen Alleinerziehende nicht alleine lassen.

(Zuruf des Abg. Christian Haase [CDU/CSU])

Ihre Vorschläge dazu sind im Moment nur verbal. De facto sehen wir nichts in Ihrem Haushalt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, wir kämpfen in diesem Land nach wie vor für saubere Energiequellen und Klimaschutz. Wir legen das Thema nicht ad acta, weil es um Lebensqualität für die Menschen in diesem Land geht, weil es um gutes Leben geht. Ja, dafür setzen wir uns ein.

Wenn Sie immer noch glauben, Sie könnten sich zurücklehnen, weil Deutschland ein Land der Lottogewinnerinnen und Lottogewinner sei, dann kann ich Ihnen nur antworten: Das ist bequem, aber das zeugt von einer verdammt verzerrten Wahrnehmung der Realität in diesem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deshalb: Lehnen Sie unsere Anträge nicht gleich ab. Das, was wir Ihnen vorschlagen, wird in diesem Land für Aufbruch stehen. Das wird aber auch für eine bodenständige Politik stehen, die Verantwortung übernimmt. Das ist die grüne Idee. Darauf würden wir gerne mit Ihnen hinarbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Ekin Deligöz. – Nächster Redner: Parlamentarischer Staatssekretär Jens Spahn.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Jurk [SPD])


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7000525
Wahlperiode 18
Sitzung 188
Tagesordnungspunkt Schlussrunde Haushaltsgesetz 2017
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