29.09.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 193 / Tagesordnungspunkt 5

Markus KurthDIE GRÜNEN - Flexibilisierung des Übergangs in den Ruhestand

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von den Regierungsfraktionen haben wir nun einige wohlmeinende, wohlklingende Absichtserklärungen gehört: Flexibel und selbstbestimmt in den Ruhestand – wer wollte das nicht? Allein: Der vorliegende Gesetzentwurf geht komplett am Problem vorbei.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht; aber bei mir im Wahlkreisbüro stehen die Bürgerinnen und Bürger jedenfalls nicht Schlage, um sich darüber zu beklagen, dass sie nicht bis 70 arbeiten können. Im Gegenteil: Sie fragen mich mit Ende 50, Anfang 60: Wie kann ich es schaffen, wenn das Renteneintrittsalter demnächst auf 67 Jahre steigt, dieses auch zu erreichen? – Das ist die entscheidende Frage, die gesellschaftspolitisch und rentenpolitisch geklärt werden muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann guck halt mal ins Gesetz!)

Ich sage Ihnen auch, was es dafür aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen ganz klar braucht, nämlich die Möglichkeit einer Belastungsreduzierung, einer Belastungsanpassung schon ab dem 60. Lebensjahr durch eine Teilrente ab dem 60. Lebensjahr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diesen Vorschlag haben wir übrigens schon einige Monate vor Ihrem Gesetzentwurf zur Flexirente eingebracht; er befindet sich im Beratungsverfahren im Ausschuss. Ich sage es Ihnen noch einmal ganz klar: Wir schlagen damit keine Frühverrentung vor, wie es manche Wirtschaftsredakteure und Wirtschaftspolitiker nicht müde werden zu behaupten, sondern die Zielsetzung einer Belastungsreduzierung ab dem 60. Lebensjahr ist, unter dem Strich länger arbeiten zu können und die Chance zu haben, auch das 67. Lebensjahr als zukünftige Ruhestandsgrenze zu erreichen. Das ist der Clou an der Sache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Kollege Matthias Birkwald hat – nicht ganz zu Unrecht – gesagt: Dann sind die Abschläge das Problem, und zwar natürlich insbesondere bei denjenigen Beschäftigten, die besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind. Hierzu machen wir von Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls Vorschläge. Wir sagen nämlich, dass es noch eine Zwischenlösung zwischen der Erwerbsminderungsrente und dem Eintritt in die Teilrente mit vollen Abschlägen geben muss.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das habt ihr bei uns abgeschrieben!)

Wir sagen: Wir brauchen eine Lösung für die Gruppe der besonders belasteten Beschäftigten. Auch diejenigen, die zu gesund für die Erwerbsminderungsrente, aber zu eingeschränkt sind, um im Job 100 Prozent „Stoff“ zu geben, brauchen eine abschlagsfreie Teilrente. Auch das bedeutet keine Frühverrentung und keinen ungerechtfertigten sozialpolitischen Bonus, sondern ist eine Hilfestellung, um es auch dieser Beschäftigtengruppe zu ermöglichen, unter dem Strich länger zu arbeiten und im Job besser dazustehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Davon profitiert natürlich auch die Krankenversicherung, weil sie dann weniger Ausgaben hat. Das ist unter dem Strich volkswirtschaftlich und für die Sozialversicherung eine sinnvolle Geschichte.

Da mir der Kollege Martin Rosemann, der nach mir reden wird, eben zugerufen hat, wir hätten das – angeblich – von der SPD abgeschrieben, möchte ich dann doch gerne einmal wissen, wovon wir das abgeschrieben haben sollen.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Arbeitssicherungsgeld!)

Ich weiß, dass die SPD immer vom Alterssicherungsgeld geredet hat.

(Zurufe von der SPD: Arbeitssicherungsgeld! – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das Alter kommt von allein!)

– Ja, wie auch immer. – Sie haben jedenfalls einen ähnlich gelagerten Vorschlag gemacht, wie ihn Bündnis 90/Die Grünen im Verfahren hat. Sie haben als Koalition auch einen Prüfauftrag für dieses Geld beschlossen. Ich habe einmal bei der Bundesregierung nachgefragt, was denn das Ergebnis dieser Prüfung sei. Da heißt es lapidar: „Ergebnisse zu dem Prüfauftrag liegen noch nicht vor.“

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber schlecht!)

Das ist die Leistung des sozialdemokratischen Arbeitsministeriums zu diesem Punkt. Dazu brauchen wir, glaube ich, wenig zu sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!)

Aber wenn man schon eine Teilrente ab 63 vorsieht – na gut, da konnten Sie in Ihrer Koalition eben nicht weiterkommen –, dann doch um Himmels willen, bitte sehr, unkompliziert! Wissen Sie, was die Präsidentin des Bundesverbands der Rentenberater sagt?

Die vorgeschlagene Abrechnungsmethode wird bei Menschen, die sich ein flexibles Modell wünschen, zu Verunsicherung und Frustration führen. Sie ist so kompliziert, dass viele Menschen abgeschreckt werden und die Flexirente nicht nutzen.

Völlig unflexibel und kompliziert – das ist das Fazit, das die Rentenberater, die in der Praxis zu Hause sind, mit Blick auf Ihren Gesetzentwurf ziehen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)

Und die Deutsche Rentenversicherung sagt, in der Praxis würden „bei nahezu allen Teilrenten nachträgliche Korrekturen erforderlich sein“. Fazit der Deutschen Rentenversicherung:

Das Verfahren wird bei den Betroffenen Verunsicherung und Unverständnis auslösen.

So viel zum Punkt Vereinfachung. Herr Linnemann vom Wirtschaftsflügel der Union, Sie sind doch immer für Bürokratieabbau. Was haben Sie denn da gemacht? Gar nichts.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Frage!)

Dann noch zum Punkt Flexibilität. Kann man denn wenigstens frühzeitig im Berufsleben auf so etwas wie die Teilrente hinarbeiten und sie einplanen?

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ja! Genau das machen wir! – Katja Mast [SPD]: Kann man!)

Kann man beispielsweise schon frühzeitiger im Berufsleben freiwillige Beiträge zahlen, um spätere Abschläge auszugleichen?

(Zurufe von der SPD: Ja!)

Könnte man das mit Arbeitgebern branchenübergreifend im Tarifvertrag vereinbaren und so eine atmende Rentenversicherung hinbekommen?

(Zurufe von der SPD: Ja! – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Frag doch mal die IG BCE!)

Nein, kann man nicht. Die SPD ruft „Ja!“, aber es ist nicht die Wahrheit. Kann man mit 40 Jahren etwa schon vorzeitig Rentenbeiträge auf freiwilliger Basis zahlen oder mit dem Betrieb vereinbaren?

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, kann man nicht!)

Nein, das kann man nicht.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Also, mit 40 kann man doch noch nicht mit dem Ausstieg beginnen!)

Das ist die Wahrheit, und das ändern Sie auch nicht mit Ihrem Gesetzentwurf, auch wenn Sie noch so laut von der Seite rufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Und warum das alles? Warum versagt diese Große Koalition auf ganzer Linie, wo sie doch angeblich das Ziel hat, einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu befördern? Weil sie kein wirkliches Interesse daran hat und von Anfang an keinen wirklichen Zugang zum Problem gesucht hat. Denn das, was hier als Flexirente präsentiert wird, ist ein Koppelgeschäft mit der sogenannten Rente mit 63, es ist ein Wundpflaster für den Wirtschaftsflügel der Union. Sie haben sich da von Anfang an ideologisch verhakt, und deswegen sind Sie da nicht mit einem Blick das Problem herangegangen. Im Hintergrund galt immer noch: Es muss dabei ein taktischer Vorteil, eine Gesichtswahrung für Sie, Herr Linnemann, herauskommen. Das merkt man diesem Gesetzentwurf auf ganzer Linie an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Du bist doch nur neidisch, dass du nicht dabei warst!)

Ich frage mich auch, was das soll, warum Sie von der Union bei der Teilrente nicht praktikablere Vorschläge gemacht haben. Sie sagen, das sei eine Frühverrentung. Das Ergebnis, wenn man die Belastungsreduzierung nicht ermöglicht, ist doch eigentlich das Gegenteil von dem, was Sie wollen. Das Ergebnis ist tatsächlich, dass Leute zu früh in die Erwerbsminderungsrente, zu früh in die Arbeitslosigkeit gehen oder sich irgendwie mit 450-Euro-Jobs durchhangeln. Das wollen wir nicht; wir wollen einen Verbleib im Erwerbsleben.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Was denn jetzt?)

Meine Damen und Herren, mancher Protagonist von der Großen Koalition verunsichert die Bürgerinnen und Bürger mit Gerede von der Rente mit 70. Sie schaffen keine Lösungen für die besonders belasteten Beschäftigten. Sie produzieren mit der Flexirente ein Placebo. Dabei wären tatsächliche Schritte für eine längere Erwerbszeit nötig. Wir müssen diese Diskussion weiterhin führen; das prognostiziere ich ganz persönlich.

Ich hoffe an dieser Stelle auch auf die Wirtschaft, darauf, dass sie die Notwendigkeit erkennt, da von ihrer Seite her etwas zu tun. Sie weiß ab dem heutigen Tag: Von der Großen Koalition ist an dieser Stelle nichts zu erwarten, aber sehr viel mehr von Bündnis 90/Die Grünen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Böse, aber gut! Der war gut!)

Vielen Dank. – Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7009837
Wahlperiode 18
Sitzung 193
Tagesordnungspunkt Flexibilisierung des Übergangs in den Ruhestand
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