09.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 198 / Tagesordnungspunkt 1

Ulla SchmidtSPD - Arzneimittelrechtliche Vorschriften (2. Lesung)

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich mich bedanken, dass wir diese Frage hier so ausführlich diskutieren können. Ich glaube, es ehrt dieses Parlament, dass wir uns in ethischen Fragen immer die Zeit genommen haben, die verschiedenen Argumente gegeneinander abzuwägen.

Der Ausgangspunkt ist – da habe ich keine Zweifel, dass wir uns da einig sind –, dass kranke Menschen, die nicht selbst in Forschungsvorhaben einwilligen können, eine besonders verletzliche und damit auch eine besonders schützenswerte Personengruppe sind, so wie das auch in der Deklaration von Helsinki beschrieben ist.

Im Hinblick auf all diese Fragen hat schon der Nürnberger Kodex von 1947 gesagt, dass Aufklärung über Nutzen, Risiken und möglicherweise auch Belastungen eine zwingende Voraussetzung dafür sein soll, dass einwilligungsfähige Menschen, Probandinnen und Probanden, in ein Forschungsvorhaben einsteigen können. Dabei ist klar, glaube ich, dass von Nutzen nur dann gesprochen werden kann, wenn es eigennützig ist. Bei „fremdnützig“ stehen immer die Belastungen und auch die eventuellen Risiken im Vordergrund; bei fremdnützigen und gruppennützigen Forschungsvorhaben gibt es keinen individuellen Nutzen.

Ich glaube, dass das der Grund ist, warum bisher bei allen Debatten über die Frage „Forschung an Nichteinwilligungsfähigen“ hier im Parlament einstimmig Konsens war, in dieser schwierigen Abwägung zwischen dem hohen Schutzbedürfnis des Nichteinwilligungsfähigen auf der einen Seite und dem vielleicht vorhandenen Nutzen und den Notwendigkeiten medizinischen Forschens auf der anderen Seite zu sagen: Nichteinwilligungsfähige können dann an Forschungsvorhaben teilnehmen, wenn sie davon einen individuellen Nutzen haben. Denn von einem solchen Nutzen wollte man auch Nichteinwilligungsfähige nicht ausschließen.

Die aktuelle Gesetzeslage – auch Frau Vogler hat darauf hingewiesen – wurde Anfang 2016 noch einmal einstimmig bestätigt – mit dem Auftrag, bei der Arzneimittelrichtlinie dafür zu sorgen, dass dieses hohe Schutzniveau in Deutschland erhalten bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Dem ist die EU-Kommission nachgekommen, aber davon soll jetzt abgewichen werden. Das ist schon ein Widerspruch in sich. Das war etwas, was uns geeint hat, und jetzt soll es geändert werden. Man soll als Einwilligungsfähiger sagen können: „Für irgendwann gebe ich meine Einwilligung“, mit oder ohne ärztliche Beratung.

Jetzt frage ich Sie einmal, Herr Kollege Nüßlein: Bleibt denn dann wirklich alles so, wie es ist? Ich glaube, drei Gründe sprechen dagegen.

Erstens. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich eine solche Vorabentscheidung treffe, kenne ich den Forschungsinhalt nicht, sonst wäre es zeitnah. Keiner, auch kein Arzt, kann mich über Risiken, Nutzen oder Sonstiges aufklären.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber das Ziel kennen Sie! – Weiterer Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])

Herr Kollege Kauder, wenn schon bei Einwilligungsfähigen die Information über Nutzen, Risiken und Belastungen eine Voraussetzung ist, damit sie an einer Studie teilnehmen können, dann kann man bei Nichteinwilligungsfähigen nicht plötzlich auf diesen Schutz und diese Information verzichten.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Zweitens. Jeder Proband und jede Probandin, die an einer Studie teilnehmen, haben das Recht, jederzeit ohne Nachteil selbstbestimmt aus einer Studie wieder aussteigen zu können. Auch das kann der Nichteinwilligungsfähige nicht wahrnehmen, weil die Möglichkeit, selbstbestimmt auszusteigen, für ihn nicht mehr gegeben ist. Damit ist es auch eine Benachteiligung gegenüber denen, die einwilligungsfähig sind.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Drittens. Wir überschreiten diese Grenze, ohne dass wirklich ein Nutzen vorhanden ist. Die Kollegin Vogler hat gesagt: Niemand kann uns sagen, welche Forschung nicht möglich ist, wenn wir diesen Weg nicht gehen. – Professor Dr. Johannes Pantel, Leiter des Arbeitsbereichs Altersmedizin der Universität Frankfurt, hat auf diese Frage so geantwortet:

Ich kann mir nicht wirklich eine klinische Forschung vorstellen, die zu wesentlichen Fortschritten führt und ausschließlich mit einer solchen Gesetzesänderung möglich wäre.

Irgendwann werden im Zuge der Teilnahme an einem Forschungsvorhaben medizinische Belastungen bei den Menschen auftreten. Er spricht sich weiter dafür aus, dass das, was wir hier machen, ausschließlich dem Wohle der Patienten dienen solle. Dem steht aber die gruppennützige Forschung entgegen. Wir brauchen keine neuen Wege.

Lassen Sie mich abschließen mit dem, was die Deutsche Alzheimer Gesellschaft gesagt hat. Sie ist die Selbstvertretung der Menschen mit Demenz. Sie hat dazu aufgefordert, die Regelung, wie wir sie jetzt haben, beizubehalten, und sie setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Demenz, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, selber entscheiden können müssen, ob sie aus einer Studie aussteigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Weiterhin sagt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, dass das, was wir hier vorhaben, nämlich dass die Betreuer es entscheiden sollen, nicht mit dem geltenden Betreuungsrecht zu vereinbaren ist; denn die Betreuer sind ausschließlich dem Wohle des Einzelnen verpflichtet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns diesen Vorschlägen folgen. Lassen wir die Gesetzeslage, wie sie ist. Sie reicht aus. Deutsche Forschung ist immer noch Spitze in der Welt.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Vielen Dank, Kollegin Ulla Schmidt. – Nächste Rednerin: Kordula Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7028850
Wahlperiode 18
Sitzung 198
Tagesordnungspunkt Arzneimittelrechtliche Vorschriften (2. Lesung)
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