09.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 198 / Tagesordnungspunkt 1

Kordula Schulz-AscheDIE GRÜNEN - Arzneimittelrechtliche Vorschriften (2. Lesung)

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Demenzielle Erkrankungen breiten sich immer mehr aus. Inzwischen sind ungefähr 1,6 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Diese Erkrankungen bedeuten unendliches Leid für die Betroffenen, aber auch für ihre Familien. Vor der Diagnose Demenz haben viele Menschen große Angst. Demenz ist bisher nicht heilbar. Umso intensiver suchen Forscherinnen und Forscher weltweit nach geeigneten Therapien. Alle hier im Haus, meine Damen und Herren, wollen die Forschung dabei unterstützen, geeignete Therapien zu finden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Sowohl meine Mutter als auch mein Vater waren an einer Demenz erkrankt. So können Sie mir wirklich glauben, dass ich alles Interesse daran habe, dass wir so schnell wie möglich mehr wissen über diese Erkrankung, ihre Ursachen, ihre Prävention, ihre Diagnostik und ihre Therapie. Ja, meine Damen und Herren, wir brauchen medizinischen Fortschritt in diesem Bereich, aber wir brauchen dafür eine Forschung, die den Schutz der Studienteilnehmerinnen und ‑teilnehmer in jeder Phase einer Arzneimittelstudie in den Vordergrund stellt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Unsere derzeitige Rechtslage macht das. Sie leistet beides. Arzneimittelstudien mit nicht mehr einwilligungsfähigen Erwachsenen sind heute möglich, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie selbst von einer Studie einen individuellen Nutzen haben. Das ist die aktuelle Rechtslage, und sie ist auch mit dem EU-Recht vereinbar.

Daraus ergibt sich die Frage: Wird aufgrund der aktuellen Rechtslage Forschung verhindert? Auf mehrfache Nachfragen, die wir an die Bundesregierung gestellt haben – auch in den Anhörungen –, konnte uns keine einzige Forschung in Deutschland genannt werden, die unter den heutigen Bedingungen nicht durchgeführt werden könnte. Im Gegenteil: Klinische Forschungen mit Demenzkranken finden in Deutschland seit langem statt. Das Deutsche Register Klinischer Studien führt aktuell acht interventionelle Arzneimittelstudien allein zu Alzheimer-Demenz auf. Die überwältigende Mehrzahl der bereits heute durchgeführten klinischen Studien zu Demenzerkrankungen konzentriert sich aber auf geringe bis mäßige Schweregrade, also auf noch einwilligungsfähige Patientinnen und Patienten, auch und gerade, um das Voranschreiten in ein späteres Stadium der Nichteinwilligungsfähigkeit hinauszuzögern oder sogar zu verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Natürlich ist auch Forschung mit Menschen mit einer Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium möglich. Aber mit welchem Ziel? Das Ziel muss doch sein, dass es zur erhofften Erleichterung oder Verbesserung des Krankheitszustandes kommt, es also einen individuellen Nutzen gibt. Das ist eine andere Definition des Eigennutzes als die Definition, die Sie, Herr Nüßlein, hier eingeführt haben und die wirklich unanständig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Wenn es aber so ist, wie ich es gerade gesagt habe, nämlich dass Forschung derzeit auf breiter Basis möglich ist, dann ist doch jetzt die nächste Frage: Warum soll ein bewährtes Gesetz überhaupt geändert werden?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Erst 2013 hat sich der Bundestag explizit dafür ausgesprochen, den hohen Schutzstandard in Deutschland aufrechtzuerhalten und entsprechend mit der EU zu verhandeln. Noch im Referentenentwurf der Bundesregierung war die Erhaltung dieses Schutzstandards vorgesehen. Aber – Minister Gröhe, das hat mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr erstaunt – ohne jede Not und jede Vorankündigung ist nun dieser tiefgreifende Einschnitt in die Rechtslage in Bezug auf Nichteinwilligungsfähige erfolgt – zwischen dem Referentenentwurf und der Kabinettsvorlage. Diese rasante Kehrtwende konnten Sie bisher nicht erklären.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Wir befürchten, dass sie auf Zuruf einer einzelnen Inte­ressengruppe erfolgt ist. Was anfangs lediglich als kleine Anpassung an EU-Recht ausgegeben wurde, entpuppt sich jetzt in Wahrheit als eine bedeutende ethische Frage.

Es gibt gleich mehrere Gründe, die gegen eine Neuregelung sprechen:

Erstens. Es gibt aus Sicht der Forschung keine Notwendigkeit, die Personengruppe für Arzneimittelstudien auszuweiten. Die bisherige Gesetzeslage führt im Bereich Demenzforschung weder aktuell noch in der Zukunft zur Behinderung eines wesentlichen Fortschritts, noch koppelt sie die Demenzkranken vom medizinischen Fortschritt ab – was ja auch ein Argument für eine Änderung wäre. Die gegenwärtige Gesetzeslage ist völlig ausreichend, um die ethisch gebotene Forschung in diesem Bereich zu ermöglichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Zweitens. Es gibt keine renommierte Forschergruppe, die neue Rahmenbedingungen gefordert hat, um laufende oder geplante Forschungsvorhaben erfolgreich aufsetzen und fortsetzen zu können. Deutschland nimmt trotz des hohen Schutzniveaus für Probandinnen und Probanden international einen Spitzenplatz in der klinischen Forschung ein.

Drittens. Die beiden anderen Änderungsanträge, die hier heute zur Abstimmung stehen, gehen mit einer immensen Rechtsunsicherheit einher. Hier gilt umso mehr: Wir alle im Bundestag sollten dem Prinzip folgen, dass man keine bewährten Gesetze ändern sollte, wenn es dafür keine triftigen Gründe gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Weder die im Gesetzentwurf vorgesehene Patientenverfügung noch die in den beiden zur Abstimmung stehenden Anträgen vorgesehene Probandenverfügung schaffen mehr Rechtssicherheit. Im Gegenteil: Während eine Patientenverfügung ja wenigstens noch ein klar definiertes, eingeführtes und an sehr hohe Anforderungen unserer jetzigen Rechtsprechung geknüpftes Instrument ist, ist die Probandenerklärung ein neu erfundenes Instrument, für das überhaupt kein Rechtsrahmen vorgegeben ist. Sie unterscheiden in Ihren Anträgen lediglich, ob ärztliche Beratung stattfinden soll oder nicht. So schafft man keine Rechtssicherheit. Aber gerade in diesem Bereich brauchen wir eine sehr hohe Rechtssicherheit, um Menschen zu schützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Was Sie mit Ihren Änderungsanträgen einführen wollen, ist eine Vorausverfügung mit einer Unterschrift zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Das ist eine Blankounterschrift, die zu einem Zeitpunkt gegeben wird, zu dem der Proband noch einwilligungsfähig ist, zu dem aber das Ziel und das Design der Studie, an der er teilnehmen soll, überhaupt nicht bekannt sind. Was soll das denn für eine Verfügung sein? Was soll denn in der Verfügung stehen, wenn sie einigermaßen rechtssicher sein und die Probanden vor Eingriffen schützen soll, die sie nicht wollen?

Deshalb mein Fazit: Forschung, von der nichteinwilligungsfähige Patienten nicht selbst profitieren, ist nicht nur unnötig, sondern medizinisch, juristisch und ethisch fragwürdig.

Herr Kollege Nüßlein, Sie haben auf die Ethikkommissionen verwiesen. Wir werden am Freitag über das gesamte Gesetz abstimmen, und das beinhaltet leider auch die Entmachtung der Ethikkommissionen, die sich auf Länderebene bewährt haben. Auch das steht neben anderen Punkten im Gesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Außerdem: Es wird nicht heute endgültig darüber abgestimmt, sondern am Freitag. Auch das muss man der Ehrlichkeit halber sagen.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ihre Unterstützung für den Änderungsantrag von Schummer, Schmidt, Vogler und mir. Ich glaube, dass wir ein gutes Werk tun, wenn wir die seitens der Bundesregierung vorgesehene Gesetzesänderung und die in den anderen Änderungsanträgen enthaltenen Vorschläge verhindern und bei der bewährten Rechtslage bleiben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Der nächste Redner ist Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7028854
Wahlperiode 18
Sitzung 198
Tagesordnungspunkt Arzneimittelrechtliche Vorschriften (2. Lesung)
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine