10.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 199 / Zusatzpunkt 5

Franz Josef JungCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke schon, dass die aktuelle politische Lage in der Türkei mehr als besorgniserregend ist, insbesondere unter dem Aspekt der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Meinungs- und Pressefreiheit. Wir verkennen nicht, dass auch der Putschversuch in der Türkei, durch den man mit Gewalt einen Umsturz herbeiführen wollte, unter keinem demokratischen Aspekt akzeptabel war; denn Bombenangriffe auf ein Parlament sind nicht akzeptabel. Aber auch das Ausmaß der Säuberungen und der Repressalien nach dem Putsch hat nichts mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sind auch die Verhaftungen von und die Repressalien gegenüber frei gewählten Abgeordneten mit Nachdruck zu verurteilen.

Ich will das aufnehmen, was der Außenminister hier gesagt hat. Die Türkei steht erheblichen Herausforderungen gegenüber, auch was beispielsweise Angriffe und Terroranschläge anbetrifft, etwa durch ISIS oder die PKK. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat es heute wieder einen Anschlag gegeben. Die Türkei hatte in den letzten Wochen mit die meisten Anschläge zu ertragen. Dass deshalb aber Verhaftungen von frei gewählten Abgeordneten durchgeführt werden, kann unter keinem Gesichtspunkt akzeptiert werden. Das hat mit Terrorbekämpfung wahrlich nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich stelle mir die Frage, ob der türkische Präsident – auch im Hinblick auf die Sicherheit in seinem eigenen Land – nicht klüger beraten wäre, wenn er zu dem Versöhnungsprozess mit der PKK zurückkehren würde, um dadurch gegebenenfalls Anschläge in der Zukunft zu verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich glaube, in diesem Zusammenhang ist die Aussage von Präsident Erdogan, Deutschland sei ein sicherer Hafen für Terroristen, nicht nur falsch, sondern solche Unterstellungen sind – erst recht gegenüber einem Bündnispartner – auch völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, denkt man an die Entwicklung in der Türkei, im Land Kemal Atatürks, muss man leider feststellen, dass die Politik von Präsident Erdogan mit der Politik von Kemal Atatürk nun wahrlich nichts mehr zu tun hat. Er will das Land in einen autoritären, islamisch und nationalistisch geprägten Staat umbauen. Das hat mit den Wertgrundsätzen Europas und der NATO nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen schon darüber nachdenken, welche Maßnahmen wir ergreifen. Der Außenminister hat gerade ein paar Punkte angesprochen. Ich will etwas zu der Forderung, die Beitrittsverhandlungen jetzt auszusetzen, sagen. Unabhängig von der Tatsache, dass die Europäische Kommission hier anders entschieden hat, glaube ich, dass es nicht richtig wäre, den Dialog, der notwendiger denn je ist, jetzt zu unterbrechen. Ich glaube, dass es notwendig ist, das aufzunehmen, was der türkische Außenminister gesagt hat. Er sagte: Wir sollten mit Europa wieder zu der positiven Agenda zurückkehren. – Vor diesem Hintergrund müssen wir den türkischen Außenminister natürlich auch daran erinnern, dass er zuerst zu den Werten Europas zurückkehren muss, bevor wir diese Agenda wieder aufnehmen können.

Meine Damen und Herren, in der Türkei herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung und der Gewalt. Die Menschen leiden unter Existenzangst, und sie hoffen auf Europa und die NATO. Gerade deshalb müssen wir jetzt Solidarität mit den Menschen in der Türkei zeigen. Ich finde, es war richtig, dass sich Staatsministerin Böhmer, als sie mit Kolleginnen und Kollegen in der Türkei war, im türkischen Parlament mit Abgeordneten der HDP getroffen hat. Ebenso war es richtig, dass Botschafter Erdmann die Redaktion von Cumhuriyet besucht hat. Ich glaube, es war auch ein richtiges Zeichen, dass der Bundespräsident den Journalisten Can Dündar zu einem Gespräch eingeladen hat.

(Beifall des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Auch wenn wir aus all diesen Gründen zu dem Ergebnis kommen, dass die Beitrittsverhandlungen nicht auszusetzen sind, so sehe ich angesichts der derzeitigen politischen Situation aber keine Möglichkeit, weitere Verhandlungskapitel zu eröffnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, eines sollte aus meiner Sicht allerdings auch klar sein: Wenn der türkische Präsident und das türkische Parlament die Wiedereinführung der Todesstrafe beschließen sollten, dann bleibt uns keine andere Wahl, als erstens die Beitrittsverhandlungen komplett auszusetzen und zweitens die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat zu beenden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kollege Bartsch, ich glaube, in Bezug auf das Flüchtlingsabkommen wird eines oft vergessen: Dieses Abkommen ist durchaus auch im Interesse der Flüchtlinge. Seit dem Abschluss dieses Abkommens ist kein einziger Flüchtling mehr in der Ägäis ertrunken.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Mehr als jemals zuvor, Herr Jung!)

– Seitdem das Abkommen funktioniert, ist diese Zahl unbestritten erheblich zurückgegangen. Die Situation im Mittelmeer sieht anders aus.

In diesem Abkommen geht es natürlich auch um die Interessen der Türkei in Bezug auf finanzielle Aspekte. Ich glaube aber, dieses Abkommen dient insbesondere auch den Flüchtlingen. Deshalb darf man das in diesem Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren.

Ich füge aber auch hinzu: Gerade jetzt – wir haben über Terrorismus gesprochen –, da der Kampf gegen ISIS unmittelbar in Mosul und Rakka stattfindet – dort wird der Terrorismus durch die internationale Allianz bekämpft –, wäre es ein völlig falsches Signal, wenn wir die Solidarität mit der internationalen Allianz beenden und aus Incirlik abziehen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich halte es aber schon für notwendig – um das klar zu sagen –, dass auch die NATO deutlich macht, dass das derzeitige politische Vorgehen in der Türkei nichts mehr mit den Wertgrundsätzen der NATO zu tun hat. Aufgrund der Flüchtlingssituation und angesichts der Tatsache, dass die Türkei Nachbar von fragilen Staaten wie Syrien und dem Irak ist und vom Terror durch ISIS und die PKK bedroht wird, glaube ich aber, dass alles dafür spricht, dass die Beziehungen zur NATO und zu Europa auch vonseiten der Türkei aufrechterhalten werden und sie wieder zu den Grundsätzen zurückkehrt, die Europa und die NATO prägen.

Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke: Ich glaube, in diesem Zusammenhang darf man auch den Faktor Wirtschaft nicht ganz verkennen, der hier auch eine Rolle spielt. Die Türkei hat schon einen erheblichen Einbruch des Tourismus zu verzeichnen. Auch die wirtschaftlichen Investitionen sind zurückgegangen. 60 Prozent der Investitionen in der Türkei stammen aus Europa. Deshalb muss der Präsident auch wissen, dass er seinem Land mit seiner Politik erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügt.

Ich denke, aufgrund all dieser Aspekte muss sowohl gegenüber dem türkischen Präsidenten als auch gegenüber der türkischen Regierung die klare Aufforderung bestehen: Kehren Sie zurück zu den Werten Europas und der NATO, zur Demokratie, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Presse- und Meinungsfreiheit!

Besten Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Claudia Roth spricht als nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7029866
Wahlperiode 18
Sitzung 199
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei
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