Gunther KrichbaumCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines ist doch klar: Wenn Präsident Erdogan so weitermacht, dann können wir auch nicht so weitermachen wie bisher. Gestern hat die Europäische Kommission ihren Fortschrittsbericht zur Türkei vorgelegt. Ein Fortschrittsbericht über ein Kandidatenland könnte nicht desaströser sein.
Die Türkei bewegt sich mehr auf die Ausgangstür der Verhandlungen zum Beitritt zur Europäischen Union hin als zur Eingangstür der EU. Das muss uns besorgt machen; denn die Leidtragenden sind am Ende die Menschen: die Bürger und die Zivilgesellschaft; Frau Roth hat es gerade beschrieben.
Doch bevor wir Schlüsse ziehen, müssen wir uns fragen, wo wir stehen. Fakt ist, dass wir uns in der Europapolitik und in der Außenpolitik alle gegenseitig brauchen. Das wird in der Tat bei dem Flüchtlingsabkommen deutlich. Man kann viel darüber klagen und schimpfen; Fakt ist aber auch, dass dieses Flüchtlingsabkommen wirkt und die Flüchtlingszahlen massiv gesunken sind.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Die Schlepper- und Schleuserkriminalität wurde wirksam bekämpft. Genau das war das Ziel dieses Abkommens. Wir wollten nicht, dass sich diese Organisationen eine goldene Nase an dem Leid der Menschen verdienen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir stehen – das wurde bislang noch nicht erwähnt – aber auch in Verhandlungen über Zypern. Wir stehen vor einer ganz entscheidenden Phase, die es immerhin erlaubt, zu sagen, dass wir der Wiedervereinigung Zyperns so nahe gekommen sind wie seit Jahren nicht mehr. Auch dafür brauchen wir die Türkei. Wir brauchen die Türkei auch in der NATO, wie schon angeklungen ist.
Das alles ist richtig. Aber wir können natürlich nicht die Augen davor verschließen, was tatsächlich passiert. Das Verhalten gegenüber oppositionellen Kräften, der Zivilgesellschaft, Kurden, Minderheiten, Journalisten, Parlamentariern und damit Kollegen kann so nicht stehen bleiben. Es ist inakzeptabel. Wenn Parlamentarier verhaftet und ihrer Stimme beraubt werden, dann ist es unsere Aufgabe, ihnen eine Stimme zu geben.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Denn erst stirbt die Pressefreiheit, dann die Meinungsfreiheit und somit am Ende die Demokratie. Die Demokratie, verbunden mit Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, gehört aber zu den Kernwerten der Europäischen Union.
Deswegen müssen wir schon allein im Interesse anderer Kandidatenländer hier Reaktionen zeigen. Was sollen denn Länder wie Montenegro, Serbien und alle, mit denen wir in Verhandlungen stehen, denken, wenn wir auf diese Vorkommnisse in der Türkei nicht oder nur schleppend reagieren, aber all den anderen Ländern, mit denen wir verhandeln, härteste Bedingungen stellen, was auch richtig ist?
Deswegen kann ich eins zu eins unterschreiben, Herr Außenminister, was Sie gerade an Maßnahmen beschrieben haben, die wir umsetzen sollten. Für diese Signale sind wir Ihnen als Parlamentarier dankbar.
Ich hätte mir in dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission, der gestern publiziert wurde, aber noch etwas mehr gewünscht. Wir gewähren den Kandidaten Vorbeitrittshilfen. Diese dienen dazu, dass diese Länder sich Schritt für Schritt an die Standards der Europäischen Union annähern können. Das ist in der Förderperiode, wie man das etwas technisch nennt, 2014 bis 2020 für die Türkei immerhin ein stolzer Betrag von 4,4 Milliarden Euro. Ich wäre nicht dafür, diese 4,4 Milliarden Euro, zumal sie auch zum Teil schon geflossen sind, in toto einzufrieren. Aber ein Drittel davon ist für die Förderung der Justiz und Rechtsstaatlichkeit reserviert. Mit diesem Geld werden junge Richter und Staatsanwälte ausgebildet. Das sind genau jene, die Herr Erdogan im Rahmen seiner Säuberungsaktion aus dem Amt gehoben hat. Das ist schon eine politische Veruntreuung von EU-Geldern. Deswegen muss man an dieser Stelle reagieren und wenigstens diesen Teil der Mittel einfrieren.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
Solche Signale brauchen wir.
Wir brauchen natürlich auch Signale an die Zivilgesellschaft. Hier können wir als Parlamentarier viel tun. Wir sollten mehr denn je in die Türkei reisen, auch wenn der Reiseetat des Deutschen Bundestages zurzeit etwas unter Druck steht. Aber diese Reisen machen Sinn. Mehr denn je sollten wir solche unternehmen.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen – das klang schon mehrfach an –: Wenn die Türkei und vor allem Herr Erdogan jetzt noch weitergehen – wir müssen zwischen dem Land bzw. den Menschen in der Türkei und Herrn Erdogan differenzieren – und die Todesstrafe im Rahmen einer Verfassungsreform einführen sollten, dann macht es in der Tat keinen Sinn mehr – das sind wir letztlich uns gegenüber schuldig, auch unseren Werten, die wir zu verteidigen haben –:
(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Richtig!)
Ein Land, das die Todesstrafe einführt und sich damit offensichtlich von den Werten der Europäischen Union abwenden möchte, hat in der Tat keinen Platz mehr in Europa.
(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])
Das sind wir uns, aber auch den anderen Ländern, die Mitglied der Europäischen Union werden möchten, schuldig.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])
Sevim Dağdelen hat als nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7029875 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 199 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei |