Michelle MünteferingSPD - Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin davon überzeugt, dass nicht der, der am lautesten schreit, in dieser ernsten Situation der Linkeste, der Sauberste oder der Moralischste ist. Ich bin aber überzeugt, dass die Debatte, die wir hier heute führen, zu der wir uns gemeinsam entschlossen haben, ein richtiger und ein guter Weg ist, darüber zu sprechen, was jetzt eigentlich passiert und was die Konsequenzen sein sollen.
Was mir in letzter Zeit durch den Kopf gegangen ist, ist ein Zitat von Winston Churchill:
Wenn es morgens um 6 Uhr an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.
Dieses Zitat habe ich in der Kolumne von Can Dündar gelesen – er ist hier schon angesprochen worden –, der entsetzt über die Verhaftungen der türkischen Oppositionellen berichtete. Am Abend bevor ich das las, war ich von einer Reise mit Kolleginnen und Kollegen nach Ankara nach Hause zurückgekommen. Ich habe den Schlüssel in der Haustür herumgedreht, das Licht angeschaltet, und plötzlich war mir klar, was Churchill gemeint hat.
Sie müssen sich vorstellen: Wir wollten uns mit Abgeordneten des türkischen Parlamentes treffen, etwa mit der stellvertretenden HDP-Vorsitzenden, Frau Yüksekdag. Aber sie war in der Nacht zuvor verhaftet worden. Es herrscht Ausnahmezustand in der Türkei. Sie wird wohl so bald nicht freikommen. Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der HDP, ist weit weggebracht worden, in ein Gefängnis an die bulgarische Grenze; so hört man. Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen sind erschreckend.
Wir haben uns nicht davon abhalten lassen, dennoch Gespräche mit der Opposition zu führen, und wir haben auch ganz offiziell die Zeitung Cumhuriyet besucht. Selbstverständlich haben wir noch am selben Tag türkische Regierungsvertreter mit diesen Vorgängen konfrontiert.
Die türkische Regierung begründet alle diese Maßnahmen, die wir erlebt haben, die wir sehen und über die wir heute hier sprechen, damit, den Terrorismus zu bekämpfen und den Putschversuch aufklären zu wollen. Uns wird vorgeworfen, dass wir das nicht verstehen können.
Ich will nicht verschweigen: Ich kann mir in der Tat kaum vorstellen, wie das Militär eines Landes das Parlament des eigenen Landes bombardiert. Ich habe die Einschüsse dort gesehen, die Trümmer, die in den deutschen Medien nicht zu sehen waren. Ich bin mir traurig bewusst, wie die Türkei immer wieder Opfer von Terroranschlägen geworden ist – ob durch den IS oder die PKK. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass wir hier im Hause jeden Terror auf das Schärfste verurteilen.
(Beifall im ganzen Hause)
Mehr noch: Wir kämpfen sogar in gemeinsamer, ja, auch in schwieriger Allianz gegen den „Islamischen Staat“; denn die Türkei und Deutschland waren und sind Verbündete in der NATO. Die Türkei ist EU-Beitrittskandidat.
Kolleginnen und Kollegen, wir verstehen hier in Deutschland sehr genau, was es heißt, wenn Demokratie und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, wenn Oppositionelle verfolgt und Kritiker mundtot gemacht werden; denn wir haben unsere ganz eigenen und leidvollen Erfahrungen gemacht. Ungefährdet ist Demokratie nie. Das hat sich in mein Bewusstsein, das hat sich in das Bewusstsein der deutschen Parlamentarier tief eingebrannt.
Die Türkei ist nicht Deutschland, und Deutschland ist nicht die Türkei. Aber schweigen und wegschauen können wir nicht. Wir dürfen es nicht. Unrecht muss Unrecht genannt werden.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Vorgehen der türkischen Regierung hat mit Demokratie und Meinungsfreiheit nichts mehr zu tun. Wenn 130 000 Staatsbedienstete aus dem Amt entlassen, Zeitungen sowie Medienhäuser geschlossen und Parlamentarier verhaftet werden, dann delegitimiert das den Kampf gegen den Terror mehr, als es ihm nützt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Türkei scheint sich mehr und mehr abzuwenden von ihrer Orientierung gen Westen, ebenso von ihrem Kurs der modernen Zivilisation. Das ist eine Entwicklung, die von dem nicht unumstrittenen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk einst begründet wurde und an den übrigens heute in der ganzen Türkei im Rahmen eines Gedenktages erinnert wird.
Mit Blick auf die jahrhundertealte Geschichte mit allen ihren Höhen und Tiefen ist das eine Entwicklung, die mich als Vorsitzende der Freundschaftsgruppe hier im Bundestag und als Sozialdemokratin zutiefst betrübt, weil ich weiß, wie viele Menschen in beiden Ländern Herzblut in das deutsch-türkische Verhältnis investieren, zu Recht.
Es gäbe so viele gemeinsame Aufgaben in dieser Welt zu meistern. Die nächste Generation, viele junge Menschen, die beide Sprachen sprechen und beide Kulturen kennen – sie hätten das Zeug dazu. Eine Tür aber kann man immer von zwei Seiten zumachen. Die veränderte Politik der Türkei und die Veränderungen des Staatspräsidenten Erdogan selbst ziehen diese Tür nach Europa nun zu.
Wir werden weiter kooperieren. Nachbarn bleiben wir weiterhin. Aber es wird sich etwas zwischen unseren Ländern ändern; denn durch geschlossene Türen kann man einander noch weniger hören und noch weniger verstehen. Um ein türkisches Sprichwort zu zitieren: Nur gute Freunde sagen sich bittere Wahrheiten.
Meine Hoffnung sind die Menschen, eine starke Zivilgesellschaft und eine junge Generation. Sie müssen wir unterstützen. Wir müssen aufeinander zugehen und Frieden schaffen. Ich bin froh, dass wir einen Außenminister haben, der deutlich gemacht hat, dass wir uns dieser Verantwortung stellen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dr. Andreas Nick hat für die CDU/CSU-Fraktion als nächster Redner das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7029879 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 199 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei |