11.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 200 / Tagesordnungspunkt 37

Norbert Lammert - 6. Bericht Bildung in Deutschland 2016

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwas über die Situation der Bildung in Deutschland zu erfahren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott sei Dank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik angewiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten diskutieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondern bezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichen Längsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hat sich verbessert?

Da kann man – egal aus welcher Richtung man kommt – eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dass sich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist. Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber es ist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Tendenz.

Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille aufhatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Fakten so schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen, sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen.

Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter drei Jahren – mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel –, die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wenn wir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hintergrund des Elternhauses, dann ist das genau die richtige Stelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Eltern haben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnen etwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr. Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vor allem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nicht so ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann man nicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hier muss man ganz konkret handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handeln ist gut! Dann fangen Sie mal an!)

Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschult werden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diese müssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden.

Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind auf einem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund und Länder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund alleine verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusammenarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen: Wir haben hier eindeutige Erfolge.

Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen – das wäre wirklich nicht angemessen –, sondern man sollte auch sehen, dass dieser Bildungsbericht – darin liegt ja gerade sein Wert – auf Schwächen aufmerksam macht, dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im Antrag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Umsetzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern, dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keine Empfehlungen.

(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sicher, es gibt Empfehlungen!)

Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstellung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind Entscheidungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in der KMK, zum Beispiel hier im Bundestag.

(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb unser Antrag!)

Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschulausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen – es wird bilanziert, wie die Situation ist – beträgt bei den Integrierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mit mehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreiben die Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber die erweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einem Großteil dieser Schulen nicht genutzt. – Ich wiederhole: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nicht genutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bund machen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dass Konzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Ecke neu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungen oder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die dritte Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahr begonnen.

Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund muss mit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bund muss mitfinanzieren. Das kann man sich ja wünschen. Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bildungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes das Allheilmittel ist,

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das glaubt doch keiner!)

dann sollte man sich die Situation in den Ländern anschauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispiel unter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funktioniert nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Das ist Ideologie!)

Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist ein Thema für den Rest der Legislaturperiode. Chancengerechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ich vom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wir viel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alles erreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung des Bildungsberichts gut nachlesbar.

An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonders erschreckend waren für mich die hohen regionalen Unterschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit, wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, von der Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß gesagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlecht sind.

(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat sie doch gar nicht gesagt! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein! Die sind aus der Not entstanden!)

– Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophal sei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftliche Aufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aber die Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländern christliche oder andere Privatschulen entstanden sind, zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danach vorhanden sind.

(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist aber an der Stelle genau nicht der Fall!)

Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMK und Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersuchung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnahmen gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehn Jahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht: Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganz deutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbiografie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran, aber das braucht Zeit.

Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten hätten. 90 Prozent – ich sage es noch einmal ganz deutlich: 90 Prozent! – der drei- bis unter sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besuchen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancengerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war es so, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittleren Abschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen bei über 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Jugendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugendlichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wenn hier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wir das nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran, aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgen einstellen. Ich finde, es motiviert aber immer, wenn es Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafür und auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, ist der Bildungsbericht ganz entscheidend.

Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Es gibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber sie haben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deutschen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sagen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für alle gut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wir nach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein super Schulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leistungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist im finnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegen würde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dort detailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwar ressortübergreifend.

Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auch ganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligung von 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die den gleichen sozioökonomischen Hintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in den jeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, der sozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entscheidender als der Migrationshintergrund.

Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schon lange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich, zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim und Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen der Arbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt man sich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die in einer ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind. Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wir wissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung aus der Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel für den Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gut aufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019 stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Verfügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommen repräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werden auch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutschland angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächsten Woche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung mit einem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um die Frage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlich unseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vorstellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichen Zusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingungen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnahmen, die auch in diesem Hause registriert werden sollten.

Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hat die britische Regierung eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der ganzen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: Welche Bildungschancen und -möglichkeiten haben die jungen Menschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist die gesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten haben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um die Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement bestellt? – 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz: Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7030431
Wahlperiode 18
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Tagesordnungspunkt 6. Bericht Bildung in Deutschland 2016
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