Uli GrötschSPD - Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernommene Zeugen und Sachverständige in fast 350 Stunden Sitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezogene Akten: Für all das und noch viel mehr steht der erste NSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag im Januar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte des Parlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und der Arbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschuss hat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um institutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermittlungspannen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]: Mit abweichenden Voten!)
Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen – einstimmig – mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lückenlose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen Versagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zu erreichen, die dieses Land je gesehen hat – eine Verbrechensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitung andauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer und ihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren lassen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die es selbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenes und vielfältiges Land ist und bleibt.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur für den umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für 47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungen sind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschlussbericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahr aus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versagen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, von Medien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederholen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU])
Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sich die rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnt hat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbesondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheitsbehörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetzt sowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbung und Führung von V-Personen und die Ausweitung der parlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es uns auch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustellen.
Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick auf den Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheitsbehörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungen haben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung menschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinaus auch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und deren Befugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichtige Plattform für den Informationsaustausch geschaffen. Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden die Inbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienstlichen Informationssystems und dessen kontinuierliche Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um die Analyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungsschutzbehörden fortlaufend zu verbessern.
Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus neben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch die Verarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateien durch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Bestrebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswertungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlich verbessert.
Aber all diese gesetzgeberischen und technischen Maßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbeschworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Rassismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zentrale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschland wieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheitsbehörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühen der Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit im Bundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auch sagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mit Tausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zu haben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Das muss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicherheitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf den Weg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützung von uns.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfassender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutz und Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen worden ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dass wir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir haben vielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns. Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbestrebungen angekommen sind, wird uns immer wieder in den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merken seit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen der Zeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht: Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Polizisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohungen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für vertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in Deutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 zählt das Bundeskriminalamt – nur drei vermeintliche Höhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichen Zeit, in der wir offenbar leben.
Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstellungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wir uns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mit den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verstetigen
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den 47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsuntersuchungsausschusses zu den Taten des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds noch mit unserer aktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann diese Arbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alle eine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die im Rahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und deren Angehörige im Februar 2012 Folgendes sagte:
Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir uns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem ganzen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Meinung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlich den Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen Angehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffanschlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen.
Vielen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann für die CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7030453 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 200 |
Tagesordnungspunkt | Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU |