11.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 200 / Tagesordnungspunkt 38 + ZP 11

Susann RüthrichSPD - Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehn Menschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletzt und Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seit fünf Jahren.

Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Es gab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird im Moment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe aus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt, politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mitglieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt. Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen geplant. Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimen und politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um einen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppen konnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Menschen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus den Fehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben? Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen.

Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt bei mir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplant worden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie würden wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten von denen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom IS gelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deutsche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutung ist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zu Recht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema. Wir würden es als das erkennen und benennen, was es ist: als Terror.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die eh schon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hier nicht sicher. Geht! – Aber wir fühlen uns viel zu oft nicht angegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele von uns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem.

Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig machen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, genauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremer Gewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen und Freunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wir mögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamer geworden sein und vieles verändert haben, wir mögen auch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits genug getan? Ich denke: nein.

Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Handlungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stärkung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungsempfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchen Tragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nicht nur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Die dafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern. Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Organisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung und Bildung quer durch die Republik. Betroffene rechter Gewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damit wurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nach einem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wird der Wert all dieses Engagements zunehmend verstanden und anerkannt. Wir sagen dafür Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Demokratieförderprogramme gehören deswegen auch für uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen menschenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstverständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm „Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist eine wesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussbericht erfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerweile, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kommune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragen werden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus der Förderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdem sind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, und neue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagieren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten.

Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eine Daueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresst werden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demokratieentwicklung, Radikalisierungsprävention – das alles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Menschen und zwischen den Gruppen muss wachsen können. Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der nächste Schritt muss also noch in dieser Legislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein Demokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig im NSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch im Koalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch.

Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, und er ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Opfer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einem Angriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sich auf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen. Eines aber bleibt offen – das wurde im Gesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt –: die Frage, ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hinterbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt, überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt noch hierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob ein Heilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhaupt möglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Das ist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeperspektive genau durch den Angriff erst genommen. Wenn etwa eine eigenständige Existenzgrundlage Voraussetzung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch den Angriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leider wieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall der NSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann?

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht in einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf genau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. Allzu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegen einen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten, zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“ Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafprozessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehr verwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wird massiv beeinträchtigt.

Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufenthaltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Strafrechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen, erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht darum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härte des Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswegen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfern rechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufenden Strafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klare Signal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreicht euer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft!

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereits viel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immer noch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wie nie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopftuch aber schon eher. Dieses Racial Profiling ist nicht in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmierereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürgerbüro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftat gesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntnis wäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffen wurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis denn provoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teilweise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Gewalt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendliche bezeichnet.

(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Abenteuerlust“, wie wir gestern gehört haben!)

Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts, wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten greifen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 des Grundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssen wir jeden einzelnen Menschen gleich schützen.

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.

(Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie ist gut! Sie kann noch ein bisschen!)

Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich gestern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, sondern Menschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7030469
Wahlperiode 18
Sitzung 200
Tagesordnungspunkt Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU
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