Volker UllrichCDU/CSU - Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU haben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufarbeitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu sprechen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir in diesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zubilligen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. Die Frage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates, zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht?
Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und das Entsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaft über diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hat zwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollen wissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historisch richtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen, warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggründe für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu lernen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kann und durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordserien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auftrag.
Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf die gesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In München geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Verhandlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei im Bund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heute aber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: im Bereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstücke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesellschaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen. Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passieren konnte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir gekommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf die Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Empfehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit gefächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Behörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt. Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkere Befugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Strafrechts. Wir haben heute festzustellen – darauf kann dieser Bundestag stolz sein –, dass praktisch alle Empfehlungen umgesetzt sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir zu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind noch Fragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkommnisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Aber möglicherweise müssen wir auch akzeptieren – selbst wenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlich dagegen sind –, dass vielleicht manche Fragen ungeklärt bleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglich ist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Was dieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historisch und beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke innere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es für die Zukunft besser zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demokratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde unserer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens, die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine andere Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten, wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegen muss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeinde jeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten, Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror. Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten des Staates.
Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungsschutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem richtigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können, was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und den Verfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Tages auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwächen. Das können wir nicht zulassen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel?
Bitte.
Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise anders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschlafen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschusses gestern genauso wie für die ganze Historie.
Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungsschutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als Definition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten begangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch motivierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute, von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute, die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefährlichkeit einschätzen sollen.
Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System rechtfertigen?
(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! Das muss er rechtfertigen! Das ist ja schlimm genug, dass Thüringen das abschafft, für die Sicherheit der Thüringerinnen und Thüringer! Unmöglich, was Sie da machen!)
Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass im Umfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute und auch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht haben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungsausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wir im zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehen geblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafte Zusammenarbeit zwischen Behörden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie dieses Instrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck. Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefährliche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen und den linksterroristischen Bereich, aber auch in den Bereich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wir weniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, Herr Kollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheit eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz beschlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserie und den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkere Restriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkungen funktionieren in der Praxis.
(Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Tino Brandt wird in Thüringen nicht mehr finanziert vom Staat, von der CDU! Die CDU hat Tino Brandt bezahlt! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nein, das müssen Sie sich anhören, Herr Tempel!)
Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehr ist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werte unseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit, die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen teilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf die Sprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dass die Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter um sich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entgegenzustellen. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen.
Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass wir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung noch nicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bitte diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, und die Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsere Haltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewertet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Beitrag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und die Würde des Menschen noch stärker zu machen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7030474 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 200 |
Tagesordnungspunkt | Große Anfrage zur Verbrechensserie des NSU |