22.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 201 / Tagesordnungspunkt I.4

Sven-Christian KindlerDIE GRÜNEN - Finanzen, Bundesrechnungshof

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eckhardt Rehberg hat gerade gesagt: „Es ist der letzte Haushalt der Großen Koalition“.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: In dieser Legislaturperiode!)

Ich kann nur sagen: zum Glück. Es ist gut so, dass dies der letzte Haushalt der Großen Koalition ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: In dieser Legislaturperiode!)

Wir sehen: Die finanzielle Lage sieht kurzfristig günstig aus: sehr niedrige Zinsen, gute Steuereinnahmen, robuster Arbeitsmarkt. Es sind also alle Möglichkeiten und alle Chancen da, um wirklich etwas zu gestalten. Gleichzeitig sehen wir: Unsere Gesellschaft steht vor großen Aufgaben. Der soziale Zusammenhalt ist gefährdet. Die Klimakrise verschärft sich. In unserem Land gibt es einen riesigen Investitionsstau. Für diese Probleme finden sich in diesem Haushalt sehr wenige Lösungen. Das ist leider nur ein Verwalten des Status quo. Das ist deutlich zu wenig. Angesichts der großen Aufgaben und angesichts der Möglichkeiten ist das leider ein Haushalt der verpassten Chancen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Zum Investitionsstau. 2012 wurden nominal 36 Milliarden Euro investiert, auch 2017 sollen 36 Milliarden Euro investiert werden – keine Steigerung, obwohl die Situation deutlich besser geworden ist. Im Finanzplan sinkt die Investitionsquote bis 2020 wieder ab. Das ist keine Antwort auf die maroden Schulen in diesem Land, keine Antwort auf langsames Internet, keine Antwort auf den großen Bedarf an bezahlbaren Wohnungen. Das Investitionsdefizit bleibt im Haushalt bestehen. Ich finde, das geht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Woran liegt das? Das liegt auch daran, dass es keine sinnvolle Investitionsstrategie vom Bundesfinanzminister, von Ihnen, Herr Schäuble, gibt. Sie haben sich lange dagegen gesträubt – Sie sträuben sich sogar immer noch –, einzusehen, dass es ein Investitionsdefizit in Deutschland und in Europa gibt. Ich finde, wir sollten uns freuen, wenn die Europäische Kommission vorschlägt, die öffentlichen Ausgaben für Investitionen zu erhöhen. Dagegen darf man keine Brandbriefe schreiben, Herr Schäuble. Das muss man begrüßen und unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE] – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)

Angesichts des mangelnden Zusammenhalts in Europa, angesichts der großen Jugendarbeitslosigkeit, angesichts des großen Investitionsbedarfs in Europa kann man doch nicht stur auf einer harten Austeritätspolitik beharren – gegen große Teile Europas, gegen den IWF. Ich finde, gerade in diesen schwierigen Zeiten muss man zusammenhalten und darf nicht spalten. Jetzt muss man in Europa mutig nach vorne gehen. Jetzt muss man mutig in unsere gemeinsame europäische Zukunft investieren. Das wäre jetzt angesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stichwort „Zusammenhalt“. Wo ist denn Ihr Konzept gegen Altersarmut? Wo ist Ihr Konzept gegen Kinderarmut? Wo sind die Konzepte für den Bildungsaufbruch bei Krippen, bei Ausbildung? Wo sind die neuen Ideen für bezahlbaren Wohnraum? Der soziale Wohnungsbau bleibt in diesem Etat weiterhin unterfinanziert. Wohnen – das wissen wir doch alle – wird immer mehr zu der sozialen Frage in unseren Städten.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Sonntag bei Anne Will vom Zusammenhalt geredet. Als einen Punkt gegen mangelnden Wohnraum haben Sie von mehr Wohneigentum, zum Beispiel in München, gesprochen. Da frage ich mich ernsthaft: Wo leben Sie eigentlich? Das ist doch in diesem Bereich fernab von jeglicher Realität. Schauen wir uns an, worum es geht. Es geht um bezahlbare Mieten in unseren Innenstädten. Das wollen die Menschen. Wir wollen keine neue Eigenheimzulage, sondern wir brauchen bezahlbare Mieten für Wohnungen in unseren Innenstädten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Leute sollen aber Eigentum haben, nicht Mieten zahlen!)

Zur Gerechtigkeit, Herr Kauder, gehört eben auch, dass Besitzer großer Vermögen wieder ihren Beitrag leisten. In keinem Land der Euro-Zone ist die Ungleichheit bei Vermögen so groß wie in Deutschland. Das liegt auch daran, dass im OECD-Vergleich hier Vermögen sehr gering besteuert werden. Wir Grüne wollen, dass man Brücken baut, um die soziale Spaltung zu überwinden. Wir sagen: Wer stärkere Schultern hat, der kann einen größeren Beitrag leisten. Besitzer großer Vermögen können helfen, die soziale Spaltung zu überwinden. Das wäre gerecht. Wir brauchen jetzt Maßnahmen gegen die Ungleichheit in diesem Land. Das ist jetzt angesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir reden über den Haushalt und die Haushaltspolitik der Großen Koalition. Da muss man Entscheidungen treffen und Prioritäten setzen. Ein Blick auf die Prioritäten der Bereinigungsnacht lässt sehr klar den Kurs der Großen Koalition erkennen. Man sieht, dass der Verteidigungs- und Rüstungsetat extrem aufgebläht ist. Als wenn das nicht schlimm genug wäre, haben die Wahlkreisabgeordneten von CDU und SPD aus Hamburg und Rostock sich fünf neue Korvetten für ihre Wahlkreise genehmigt: für 1,5 Milliarden Euro.

(Lachen bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

– Ich finde es unglaublich, dass Sie lachen und sich dafür feiern. Ich finde es unverschämt, wie Sie mit dem Haushalt umgehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die haben aber in ihrem Wahlkreis gar kein Wasser!)

Denn gleichzeitig – das haben Sie auch gemacht – haben Sie die Mittel für die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten und Langzeitarbeitslosen um 300 Millionen Euro gesenkt, obwohl jeder weiß, dass die Jobcenter strukturell unterfinanziert sind. Für Rüstung sitzt das Geld bei SPD, CDU und CSU extrem locker; wenn es um die Jobcenter geht, dann wird geknausert: Das ist, finde ich, eine völlig falsche Entscheidung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir sehen auch beim Klimaschutz falsche Prioritäten und falsche Entscheidungen – obwohl bekannt ist, dass auch die Klimakrise Auswirkungen auf diesen Haushalt hat. Die Klimakrise ist mittelbar ein Haushaltsrisiko. Angesichts dessen müssen wir doch gerade jetzt investieren. Jetzt müssen wir in Klimaschutz, in Gebäudesanierung, in eine ökologische bäuerliche Landwirtschaft, in Busse und Bahnen, in den öffentlichen Nahverkehr investieren. Wenn wir jetzt investieren, zahlen wir nicht später doppelt und dreifach für Klimaschäden. Deswegen wäre es jetzt angesagt, in diesem Haushalt deutlich in den Klimaschutz zu investieren. Das wäre jetzt nötig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Doch was passiert stattdessen? Die umwelt- und klimaschädlichen Subventionen liegen immer noch bei über 50 Milliarden Euro. Sie sind in Ihrer Amtszeit um 10 Milliarden Euro gestiegen, Frau Merkel. In der Bereinigungsnacht sind weitere 200 Millionen Euro für die Flugindustrie dazugekommen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Super!)

Auf der anderen Seite sehen wir: Der Klimaschutzplan von Frau Hendricks wurde zerschreddert; er wurde von Herrn Dobrindt, vom Landwirtschaftsminister und auch von Herrn Gabriel massiv zerlöchert. Ich finde es, ehrlich gesagt, angesichts der riesigen Klimakrise, die wir haben, und der großen internationalen Verantwortung, die Deutschland hat, ignorant und verantwortungslos, was die Bundesregierung beim Klimaschutz macht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch ein Wort zur Autobahnprivatisierung: Niemand, Herr Schäuble, braucht eine Allianz-Autobahn oder eine Deutsche-Bank-Brücke. Diese direkte Privatisierung der Autobahn müssen wir im Deutschen Bundestag verhindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir haben die Allianz-Arena in München!)

Das will anscheinend auch die SPD; das habe ich jedenfalls gelesen. Aber es ist ein schönes Schauspiel, was Sie da aufführen. Sie wissen doch selbst: Der Teufel steckt im Detail. Der eigentliche Plan ist doch, dass diese Gesellschaft nachher für weite Teile des Autobahnnetzes große Netz-ÖPPs bereitstellt, obwohl wir wissen, dass öffentlich-private Partnerschaften im Straßenbau laut Bundesrechnungshof im Schnitt 20 Prozent teurer sind.

Deswegen, liebe SPD: Wenn Sie es im Kampf gegen die Privatisierung wirklich ernst meinen, dann dürfen Sie nicht nur gegen die direkte Beteiligung der Investoren sein, sondern dann müssen Sie auch gegen öffentlich-private Partnerschaften bei dieser Gesellschaft eintreten. Das erwarte ich von Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich hoffe nicht, dass die Deutsche Bank, Ergo oder die Allianz schon Treffen mit SPD-Politikern über die SPD-Agentur gebucht haben, wie gerade in Frontal 21 berichtet wurde. Offenbar kann man inzwischen Treffen mit der SPD-Spitze buchen. Das können Sie alle nachlesen. Ich hoffe nicht, dass diese Unternehmen schon Treffen gebucht haben, um das einzutüten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kahrs ist der nächste Redner. Vielleicht können Sie sagen, wie viel ein Treffen mit Ihnen kostet, wenn man Sie buchen will.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unbezahlbar!)

Ich komme zum Schluss. Was bleibt eigentlich von vier Jahren schwarz-roter Haushaltspolitik? Was bleibt mehr übrig als eine Zahl? Sie wissen selber: Es bleibt nicht viel übrig. Man kann Haushaltspolitik nicht auf eine Zahl beschränken. Es kann nicht das Ziel einer guten Finanzpolitik sein, nur auf eine Zahl zu schauen. Man muss mehr machen. Man muss diese Zahl mit Leben füllen, und man muss den Haushalt mit Leben füllen. Weil Sie das nicht gemacht haben, gibt es – das wissen Sie selber – viele Verliererinnen und Verlierer: arme Kinder, arme Rentner, Klima und Umwelt.

Herr Kollege Kindler.

Herr Präsident, ich könnte noch ganz viele andere Beispiele aufführen, –

Ich habe keinen Zweifel daran.

– aber ich komme zum Schluss. – Es ist und bleibt ein Haushalt der verpassten Chancen, und es ist gut, dass es der letzte Haushalt der Großen Koalition ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Nun hat der Kollege Johannes Kahrs genauso wenig Zeit, eine etwas andere Perspektive des Haushaltes vorzustellen.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das muss aber nicht sein! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich hoffe, kostenlos! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kostet Kahrs?)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7034562
Wahlperiode 18
Sitzung 201
Tagesordnungspunkt Finanzen, Bundesrechnungshof
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