22.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 201 / Tagesordnungspunkt I.5

Katja KeulDIE GRÜNEN - Justiz und Verbraucherschutz, Bundesverfassungsgericht

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Maas, ich will die allgemeine Aussprache heute für einen Appell an Sie nutzen, einen Appell an den Justizminister, in der verbleibenden Zeit dieser Legislatur den gröbsten Unsinn zu verhindern und gegen die immer populistischer anmutenden Debatten standzuhalten; denn auch bei uns scheint das Zeitalter des Postfaktischen schon Einzug zu halten. Kenntnisse von der geltenden Rechtslage sind da offenbar oft nur noch ein Störfaktor in der allgemeinen Erregung.

Bestes Beispiel dafür ist die Debatte um die sogenannten Kinderehen. Der Ruf nach einem Verbot von Kinderehen suggeriert zunächst einmal, so etwas sei in Deutschland erlaubt. Fakt ist aber: Eheschließungen sind bei uns grundsätzlich nur ab 18 Jahren und auch nur vor dem Standesbeamten möglich. Fakt ist auch: Irgendwelche religiösen Zeremonien, wie Imam-Ehen oder Ähnliches, haben bei uns keinerlei Rechtswirkungen und sind schlicht nichtig.

Einige wollen jetzt, dass solche Zeremonien mit einem Bußgeld verfolgt werden. Ich sehe quasi schon vor meinem inneren Auge, wie Beamte der Ordnungsbehörden in den Moscheen beim Gottesdienst Protokoll führen. Das kann man nur noch als groben Unfug bezeichnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Relativieren Sie Kinderehen, oder was?)

Bei einer sachlichen Befassung damit stellen wir fest: Es gibt an einem Punkt tatsächlich Handlungsbedarf.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)

Wenn Minderjährige zu uns kommen, die im Ausland wirksam geheiratet haben, dann brauchen wir ein Verfahren, mit dem die Aufhebung der Ehe aus Kindeswohlgründen auch von Amts wegen erfolgen kann.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Dabei geht es aber weder um Anerkennung oder Nichtigkeit, sondern um eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft. Ich finde, so viel juristische Differenziertheit muss schon sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])

Stattdessen verzetteln sich jetzt einige in der völlig unerheblichen Frage, ob die Möglichkeit, in Deutschland mit familiengerichtlicher Genehmigung schon mit 16 Jahren zu heiraten, abgeschafft werden muss. Als ob wir keine anderen Probleme hätten!

(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: Wenn es danach geht!)

Diese Ausnahmegenehmigung wird in Deutschland ungefähr 100 Mal im Jahr erteilt, meist aus guten Gründen und nach Prüfung des Kindeswohls. Zu dieser völlig irrelevanten Frage erhalte ich als Bundestagsabgeordnete seitenlange Schreiben aus Landesjustizministerien, von denen ich in den letzten drei Jahren bei all den gravierenden Einschnitten in die freiheitliche Rechtsordnung

(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])

durch immer neue Strafverschärfungen noch nie ein Wort des Widerstands gehört habe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Eva Högl [SPD]: Das gefällt mir!)

Herr Maas, ich bitte Sie: Legen Sie eine konkrete, sachbezogene Lösung vor, und bieten Sie dem populistischen Geschrei Einhalt! Dann können Sie auch auf unsere Unterstützung zählen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE] – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur dann!)

Ich wundere mich allerdings auch, wie schnell Sie in dieser Sache plötzlich aktiv werden, während wir die Hoffnung längst aufgegeben haben, in dieser Legislaturperiode lang angekündigte Gesetzentwürfe, wie beispielsweise zum kollektiven Rechtsschutz oder zum Schmerzensgeld für Angehörige, zu Gesicht zu bekommen. Aber vielleicht geschehen ja noch Wunder.

Ich wünsche mir von einem Justizminister aber auch, dass er dem ständigen Verlangen der Konservativen nach neuen Sicherheitspaketen standhält. Es wird doch kein einziger Anschlag dadurch verhindert, dass Sie sich jetzt mit dem Innenminister auf Fußfesseln für Extremisten und Videoüberwachungen im öffentlichen Raum geeinigt haben.

(Zurufe von der CDU/CSU: Haben wir gar nicht! – Woher wollen Sie das wissen?)

Im Gegenteil: Es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben, wir könnten ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, indem wir ständig die Gesetze ändern. Das ist wie eine Droge, bei der wir ständig die Dosis erhöhen müssen, um die Wirkung zu erhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE] – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Ich würde Sicherheitsgesetze nicht als Droge bezeichnen!)

Was die Menschen in diesem Land brauchen, ist weder Fußfessel noch Burkaverbot, sondern eine politische Führung, die mit Bedacht handelt, statt Ängste zu schüren;

(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Machen wir ja!)

eine politische Führung, die zugesteht, nicht jeden Anschlag verhindern zu können, die aber deutlich macht, dass unser Rechtsstaat über die Instrumente verfügt, mit den Herausforderungen umzugehen; eine politische Führung, die gerade jetzt den freiheitlichen Rechtsstaat verteidigt und sich dem Ansturm der Populisten entgegenstellt.

Herr Justizminister, je stärker dieser Wind bläst, desto mehr sind gerade Sie gefordert. Seien Sie also bitte kein Fähnchen im Wind, sondern ein Fels in der Brandung! Denn das ist es, was unser Land und unser Rechtsstaat jetzt braucht.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vielen Dank, Katja Keul. – Nächste Rednerin: Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7034613
Wahlperiode 18
Sitzung 201
Tagesordnungspunkt Justiz und Verbraucherschutz, Bundesverfassungsgericht
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