Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Bundesteilhabegesetz
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schiewerling, ich muss kurz auf das eingehen, was Sie ganz am Anfang Ihrer Rede gesagt haben. Sie haben gesagt, man solle die Lebenssituation von Menschen nicht skandalisieren. Dazu sage ich Ihnen erstens: Dieses Parlament ist keine kritikfreie Zone. Zweitens muss ich sagen: Wenn Lebenssituationen ein Skandal sind, dann muss man das auch in diesem Parlament benennen dürfen; denn sonst haben wir grundsätzlich ein Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ich möchte Ihnen sagen, was behinderte Menschen zu diesem Gesetz und zu diesem Beratungsprozess zu sagen haben – sie können leider nicht persönlich an diesem Pult reden; deshalb möchte ich das übernehmen –:
Wenn ich geahnt hätte, dass wir primär Verschlechterungen unserer Lebenssituation zu erwarten haben, dass auch in Zeiten einer gültigen UN-Behindertenrechtskonvention unsere Menschenwürde mit Füßen getreten wird, hätte ich meine Lebenszeit sinnvoller investiert.
Das sagt Frau Dr. Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland.
Ich muss Ihnen sagen: Ich fühle mich heute so ein bisschen wie in einem Paralleluniversum. Wir reden seit vielen Jahren darüber, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Die Vereinten Nationen haben uns Empfehlungen mit auf den Weg gegeben. Darin steht ganz deutlich, was wir zu tun haben. Behinderte Menschen und ihre Verbände haben auch immer wieder klargemacht, an welchen Stellen der Schuh drückt, wo sie kämpfen müssen, wo Dinge nicht klappen, wo etwas schiefläuft. Und heute stimmen wir hier über einen Gesetzentwurf ab, der wesentliche Probleme behinderter Menschen immer noch nicht berücksichtigt. Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, mit dem Sie das Vertrauen behinderter Menschen in den letzten Monaten nachhaltig verspielt haben, und das in einer Zeit – das ist das besonders Schlimme an der Sache –, in der das Misstrauen gegenüber der Politik so groß ist wie lange nicht mehr.
Frau Kollegin Rüffer, darf ich Sie einmal unterbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolff?
Ja, gerne.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Frau Kollegin Rüffer, können Sie uns vielleicht erklären, an welchen Stellen sich das Leben der von Ihnen geschilderten Personen durch unsere Gesetzgebung jetzt entscheidend verschlechtert?
Frau Wolff, das wollte ich im Verlauf meiner Rede darlegen. Das werde ich auch gleich tun. Was ich an dieser Stelle aber ganz deutlich machen möchte, ist, dass sich das, was ich gesagt habe, auf den Entwurf bezieht, den Ihre Regierung vorgelegt hat.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Katja Mast [SPD]: Ach nee! Es geht gar nicht um das Gesetz! – Weitere Zurufe von der SPD)
Das ist ja ganz wichtig. In Ihren Reden – Frau Wolff, ganz ruhig! – kommt es immer so rüber, als würde dieses Gesetz – –
Jetzt hat erst einmal die Kollegin Rüffer das Wort. – Bitte.
Das ist total nett. Ich denke, wer eine Frage stellt, möchte bestimmt auch die Antwort hören.
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sie beantworten die Frage gar nicht!)
In Ihren Reden hört es sich so an, als sei das, was Sie hier vorlegen, eine Verbesserung gegenüber dem, was gültige Rechtslage ist.
(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das ist es aber auch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es ist offensichtlich keine Verschlechterung!)
Das ist leider mitnichten so. Anfang der Woche, zwei Tage vor Verabschiedung dieses Gesetzes, haben Sie 68 Änderungsanträge vorgelegt. Was sagt uns das, Frau Wolff? Das sagt uns, dass Sie einen schlechten Gesetzentwurf vorgelegt haben und last-minute-mäßig an den ganz schlimmen Stellen Nachbesserungen vornehmen mussten.
(Zurufe von der CDU/CSU)
An der Schnittstelle zur Hilfe zur Pflege
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wäre es zu Verschlechterungen gekommen. Bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen wäre es zu Ungerechtigkeiten gekommen. Die Leute hatten zu Recht Angst, ihren Lebensabend nicht in ihrer gewohnten Umgebung verbringen zu können, sondern ins Heim abgeschoben zu werden. – Sie können sich doch heute nicht hierhinstellen und so tun, als wären Sie stolz auf das Gesetz, das wir heute zu verabschieden haben.
(Katja Mast [SPD]: Doch! Das sind wir!)
Das, was an Verbesserungen drinsteht, bezieht sich auf den Gesetzentwurf und nicht auf die gültige Rechtslage.
(Widerspruch bei der SPD)
Wir stimmen heute im Wesentlichen über einen Gesetzentwurf ab, der keine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen mit Behinderung bringt.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Keine Antwort!)
Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, dessen schlimmste Verschlechterungen, schlimmste Grausamkeiten sie herausgenommen haben; dafür bin ich Ihnen wirklich dankbar.
(Zurufe von der SPD: Oh!)
Dass Sie hier vollmundig so tun, als könnten Sie sich stolz auf die Schulter klopfen, finde ich unmöglich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Mal gucken, wie sich die Länder mit Ihrer Beteiligung im Bundesrat verhalten!)
Ich habe das Gesetz gelesen und vorgetragen, was die Menschen mit Behinderung zu diesem Gesetz zu sagen haben.
Frau Kollegin Rüffer, es gibt noch eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß.
Ja, sehr gern.
Bitte schön.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber bitte antworten!)
Das mache ich doch immer, Frau Wolff.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Die Frage ist völlig unbeantwortet!)
Wie geantwortet wird, entscheiden immer noch diejenigen, die gefragt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Jetzt Ihre Frage, bitte schön.
Frau Kollegin Rüffer, ich habe eine ganz einfache Frage. Man kann Ihre Rede ja später im Protokoll nachlesen; aber vielleicht wäre es gut, in dieser Diskussion doch einmal festzuhalten, ob ich es vorhin richtig verstanden habe, dass Sie festgestellt haben, dass der heute aufgrund der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu verabschiedende Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes zu einer Verbesserung der Rechtslage gegenüber den bestehenden rechtlichen Regelungen der Eingliederungshilfe führt. Ist das richtig?
Nein. Wenn ich mir den Gesetzentwurf im Detail anschaue und entsprechend abwäge, dann muss ich sagen, dass dieser Gesetzentwurf keine Verbesserung gegenüber der gültigen Rechtslage ist.
(Katja Mast [SPD]: Dann stimmen die Grünen im Bundesrat also nicht zu!)
Die positiven Punkte sind ja genannt worden; das haben wir auch immer anerkannt. Ich denke zum Beispiel daran, dass endlich das Budget für Arbeit bundesweit eingeführt werden kann.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist doch eine Verbesserung!)
Ich kann Ihnen als Rheinland-Pfälzerin sagen: Wir haben das seit vielen Jahren. Die bundesweite Ausdehnung ist ein wichtiger Punkt. Im Vergleich zu dem, was ansonsten in diesem Gesetzentwurf mit Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Menschen steht, muss man aber sagen, dass man dafür keinen solchen Aufwand wie jetzt mit dem Bundesteilhabegesetz hätte betreiben müssen. Das hätte man auch einfacher machen können, und dann hätte man auch nicht die Wut und die Angst der Menschen auf sich gelenkt.
Ich bin froh – das sage ich noch einmal –, dass Verschlechterungen gegenüber der heute geltenden Rechtslage zum Teil zurückgenommen worden sind, zum Beispiel bei der Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: „Zum Beispiel“!)
Ich bin froh, dass wir auch beim Wunsch- und Wahlrecht noch Kleinigkeiten verbessern konnten. Ich bin auch ganz froh darüber, dass wir die unsinnige Fünf-von-neun-Regelung endlich vom Tisch haben – zumindest bis 2023. Das ist aber doch nichts, worauf man stolz sein kann, sondern etwas, wofür man sich als Bundesregierung, die alle Möglichkeiten hätte, gute Gesetzentwürfe vorzulegen, eigentlich schämen müsste.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihre Rede passt nicht zusammen!)
Frau Kollegin Rüffer, der Kollege Stritzl würde auch noch gerne eine Frage stellen, wenn Sie sie zulassen.
Ja, gerne.
Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die der Kollegin Rüffer gestellt wird. Danach kann sie Ihre Rede zu Ende führen. – Bitte schön, Herr Kollege Stritzl.
Frau Kollegin, Ihre Fraktionsvorsitzende hat vorhin von begrüßenswerten Verbesserungen in diesem Gesetzentwurf gesprochen. Dazu haben Sie applaudiert. Können Sie mir sagen, wozu Sie applaudiert haben?
Na ja, einen Punkt habe ich genannt. Es gibt durchaus noch andere Punkte, wie die unabhängige Beratung.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aha!)
Sie wird aber auch nur begrenzt eingeführt. Zum Budget für Arbeit
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist schon die zweite Verbesserung!)
muss man sagen, dass die Ausstattung, die wir in Rheinland-Pfalz kennen, deutlich besser ist als die nach bundesgesetzlichen Regelung.
Ich will zugestehen, dass in diesem Gesetzentwurf natürlich auch Verbesserungen stehen. Es wäre ja auch schlimm, wenn auf 400 Seiten keine Verbesserungen stünden.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Na, wenn man Sie so reden hört! – Katja Mast [SPD]: Verschlechterung von geltendem Recht, das war Ihre These!)
Man muss aber sagen, dass Sie damit natürlich weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, und das sollten Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir freuen uns darüber – das will ich noch einmal sagen –, dass die Grausamkeiten in dem Gesetzentwurf, den Ihre Regierung verabschieden wollte, zu einem wesentlichen Teil zurückgenommen worden sind.
(Katja Mast [SPD]: Ihre These ist Verschlechterung gegenüber geltendem Recht!)
Aber ich finde es wirklich unglaublich, dass Sie hier so tun, als hätten Sie einen Meilenstein geschaffen oder wären auf dem Weg dahin. Das stimmt nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Katrin Göring-Eckardt hat gerade gesagt: Wir stehen bestenfalls am Anfang eines Prozesses. Nicht mehr und nicht weniger ist richtig und hier gesagt worden.
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ihre Rede ist unglaublich!)
Sie müssen es schon einmal aushalten, für einen Gesetzentwurf kritisiert zu werden, gegen den Menschen mit Behinderungen seit Monaten Protest laufen. Sie glauben doch nicht, dass sie das ohne Grund tun. Es gibt also keinen Grund, sich hier auf die Schulter zu klopfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie biegen sich hier hin und her!)
Von den Kritikpunkten sind hier schon einige angesprochen worden. Mit diesem Gesetz verhindern Sie zum Beispiel nicht, dass zukünftig Menschen in Heime gezwungen werden. Das findet heute statt, und das findet auch zukünftig statt. Wenn die Leute die Kraft haben, vor Gericht zu gehen, dann werden diese schlechten Entscheidungen zukünftig wahrscheinlich auch wieder revidiert. Sie schaffen hier null Verbesserungen. Es wird zukünftig so sein, dass Menschen darum kämpfen müssen, zu Hause wohnen zu können, wozu sie eigentlich ein Recht haben.
Teilweise verschlechtern Sie die Situation der Menschen auch; das muss man eben sagen. Zum Zwangspoolen und zur Assistenz im Ehrenamt wurde schon einiges gesagt. Ich möchte Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen zitieren, welches schon 2012 einen Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz vorgelegt hat. Mit Bezug auf das Zwangspoolen sagt sie:
Damit wird erstmals durch dieses Gesetz ein immenser Eingriff in die Selbstbestimmung behinderter Menschen möglich gemacht und legitimiert.
Aus ihrer Sicht fallen vor diesem Hintergrund auch die positiven Veränderungen nicht ins Gewicht; das bestätigt meine These. Sie erklärt:
Ganz ehrlich – wem bringen die neugeschaffenen finanziellen Vorteile etwas, wenn dafür die Freiheit genommen wird?
So Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen, eine renommierte Richterin.
So sehr ich Ihnen für die Verbesserungen dankbar bin – das habe ich jetzt mehrfach betont –: Das, was Sie hier vorlegen, ist kein Bundesteilhabegesetz. Wir sind am Anfang und nicht am Ende des Prozesses.
Ich möchte am Schluss auf eine Personengruppe zu sprechen kommen, die hier noch nicht angesprochen worden ist: die Menschen mit Behinderungen, die einen besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, die Menschen, die nach wie vor aus Werkstätten ausgeschlossen werden, für die es kaum Angebote gibt, die Menschen, deren Angehörige jeden Tag immer wieder kämpfen müssen, um die notwendige Unterstützung zu organisieren, die sie brauchen, die Menschen, die ihr ganzes Leben lang subtil und auch offen signalisiert bekommen, dass sie in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind, dass sie Kosten verursachen. Für diese Menschen – das verstehe ich beileibe nicht – tun Sie mit diesem Gesetz gar nichts. Das ist einfach ein Armutszeugnis.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie reden seit drei Jahren davon, ein modernes Teilhaberecht schaffen zu wollen. Ich sage Ihnen heute: Wir sind ganz am Anfang dieses Prozesses und haben noch viel Weg vor uns. Es gibt keinen Grund, liebe Große Koalition, sich mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter zu klopfen.
(Kerstin Tack [SPD]: Du immer mit deinem Stolz! Außer dir hat hier noch niemand „stolz“ gesagt!)
Den Eindruck vermitteln Sie. Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass. Es liegt viel Arbeit vor uns. Meine Fraktion und ich sind dabei, wenn es darum geht, dieses Gesetz in den Ländern umzusetzen und es in den nächsten Jahren besser zu machen, damit Menschen mit Behinderung wirklich etwas davon haben.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Carola Reimann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7038473 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 206 |
Tagesordnungspunkt | Bundesteilhabegesetz |