Uwe SchummerCDU/CSU - Bundesteilhabegesetz
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Kollegin Rüffer, vor mehr als einem Jahr haben Sie im Ausschuss gewarnt, es gebe starke politische Kräfte, nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern, die verhindern wollen, dass das Bundesteilhabegesetz überhaupt parlamentarisch beraten wird. Ich kann Ihnen heute sagen: Es gibt starke politische Kräfte, auch hier im Bund, die dafür gesorgt haben, dass dieser Entwurf zum Bundesteilhabegesetz heute beraten und beschlossen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das zeigt, dass wir bereit sind, das, was wir miteinander vereinbart haben, auch durchzusetzen.
Sie haben gesagt, dass es so viel Protest gegen den Regierungsentwurf gegeben hat und die Abgeordneten der Koalition mit 68 Änderungsanträgen darauf reagiert haben, das sei ein Skandal und ein Zeichen dafür, dass irgendwas schiefgelaufen ist.
(Zuruf von der SPD: Parlamentarismus!)
Das ist für mich ein merkwürdiges Demokratieverständnis. Deshalb sind wir doch im Parlament: damit wir als Abgeordnete die Regierung kontrollieren und unsere Positionen mit einbringen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Kollege Schummer, darf ich kurz unterbrechen? Die Kollegin Rüffer würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Ja.
Okay.
Herr Kollege Schummer, vielen Dank. – Ich frage mich, ob Sie mich vielleicht missverstanden haben. Ich habe gesagt, dass die 68 Änderungsanträge ein Beleg dafür sind, dass der Entwurf Ihrer Regierung so schlecht gewesen ist.
Sie haben vorhin gesagt, dass der Protest, der zu diesen 68 Änderungsanträgen geführt hat, mit denen wir im Parlament – als Volksvertreter im Deutschen Bundestag – darauf reagieren, ein Zeichen dafür war, dass das Verfahren nicht in Ordnung war. Beides gehört zusammen: Wir transportieren das, was wir vor Ort und auf Veranstaltungen erfahren, ins Parlament, und das führt zu Änderungsanträgen. Das ist gelebte Demokratie. Ich hoffe, darin sind wir uns einig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Nun zu einem anderen Thema, das für mich schwer nachvollziehbar war. Wir wollen von der negativen medizinischen Diagnose wegkommen – „wesentlich behindert“ und dann in die Eingliederungshilfe – und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention mit der neuen Begrifflichkeit umsetzen, wonach Behinderung durch das, was in den Menschen angelegt ist, und in Wechselwirkung mit anderen Menschen und dem Lebensumfeld entsteht. Das bedeutet, dass wir gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention neun Lebensbereiche wie Mobilität, Kommunikation, Wissen und Lernen definieren. Das finde ich nach wie vor richtig. Aber für mich und viele andere war fachlich nicht nachvollziehbar, warum ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe erst dann gegeben ist, wenn in fünf von neun Lebensbereichen eine erhebliche Teilhabebeschränkung besteht. Uns war nicht klar, ob diese Zahl fünf gewürfelt war, ob sie in goldenen Lettern am Firmament stand oder ob sie eine nächtliche Erscheinung war. Die mathematische Erklärung lautete: Es sind mehr als 50 Prozent. – Das ist aber keine fachliche Erklärung. Deshalb haben wir den Zugang verändert. Wir werden das in den Bundesländern und den Regionen wissenschaftlich aufarbeiten und dann 2022/23 im Lichte der Erkenntnisse darüber entscheiden. Aber das Umsteuern hin zu einem anderen Zugang im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist nach wie vor unser Ziel.
Entscheidend war, dass wir den Schutz der privaten Wohnform weiter konkretisiert haben. Bislang ist es ein Problem, dass Menschen in Heime abgeschoben werden. Es gibt einen Verschiebebahnhof, der dafür sorgt, dass Menschen aus Behinderteneinrichtungen in Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden. Das wollen wir verändern.
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie es doch!)
Deshalb haben wir – auch in den Änderungsanträgen – das persönliche Wohnumfeld und die Intimsphäre auf besondere Weise im Gesetz geschützt, und zwar stärker, als es heute real der Fall ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht, Herr Schummer!)
Wer diesen Gesetzentwurf ablehnt, der lehnt auch ab, dass wir endlich – ergänzend zu den Beratungsstrukturen in den Ländern – eine unabhängige, vom Bund finanzierte Beratungsstruktur schaffen. Wie Sie wissen, gibt es manche Bundesländer, in denen sich die Beratungsstrukturen gut entwickeln. Es gibt aber auch Bundesländer, in denen so gut wie keine Beratungsstruktur vorhanden ist. In solchen Ländern ist die Fahrt in die nächste Stadt unumgänglich. Deshalb ist es wichtig, dass mit Bundesmitteln in Höhe von 58 Millionen bis 60 Millionen Euro jährlich flächendeckend eine ergänzende und unabhängige Beratungsstruktur für die Betroffenen und ihre Angehörigen geschaffen wird. Arbeit prägt den Menschen. Wir brauchen die Förderwerkstätten weiterhin. Aber wir wollen sie öffnen und durchlässiger gestalten. Wir wollen die Beschäftigten durch verbesserte Einkommens- und Vermögensbildungsmöglichkeiten stärker beteiligen. Wir wollen bundesweit ein Budget für Arbeit etablieren, damit der Gang auf den ersten Arbeitsmarkt stärker unterstützt und organisiert werden kann.
Wir haben derzeit eine starke Kostendynamik in der Eingliederungshilfe zu verzeichnen. 13 000 bis 15 000 Werkstattplätze für psychisch behinderte Arbeitnehmer vom ersten Arbeitsmarkt müssen geschaffen werden. Allein das verursacht Kosten in Höhe von rund 200 Millionen Euro in der Eingliederungshilfe. Wir wollen, dass die Betroffenen durch Integrationsfirmen und virtuelle Werkstätten möglichst nah am ersten Arbeitsmarkt verbleiben können und dort intelligente Arbeitssysteme bekommen, die ihrer Produktivität zugutekommen.
Wir müssen die Kostendynamik dort bekämpfen, wo sie stattfindet, und zwar durch die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben und Verwaltungen. Das sind die sozialen Faktoren. Die Betreffenden wissen, wie man ein Gesundheitsmanagement bei chronischen Erkrankungen organisiert und wie man Frühwarnsysteme gegen Burn-out und psychisch-seelische Erkrankungen schaffen kann. Sie sorgen dafür, dass in Betrieben und Verwaltungen mit Beratung und Unterstützung bei Anträgen, Krankheiten und Integrationsnotwendigkeiten Inklusionsabteilungen geschaffen werden, die wissen, wie damit umzugehen ist. Es ist wichtig, dass wir den Betreffenden mehr Freiräume im Bundesteilhabegesetz zugestehen, sodass sie von bürokratischen Lasten entbunden werden. Sie werden dabei durch eine Aufwertung ihrer Stellvertreter und eine Stärkung der Qualifikationsmaßnahmen ergänzend unterstützt. Wir schaffen zudem den Einstieg in eine Wirksamkeitsklausel. Bevor sich ein Betrieb oder eine Verwaltung von einem schwerbehinderten Arbeitnehmer trennt, sollen die Möglichkeiten der Weiterbeschäftigung geprüft werden.
Die zweite Kostendynamik resultiert daraus, dass mittlerweile 43 Prozent aller Frühverrentungen aufgrund von psychischen Erkrankungen erfolgen. Das heißt, es sind nicht mehr die kaputten Knochen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern psychische Erkrankungen, die für 43 Prozent der Frühverrentungen verantwortlich sind. Unser Schlüssel, dieses Problem anzugehen, ist die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in den Betrieben und der Verwaltung.
Wer sagt, dieses Gesetz sei nicht sein Gesetz, der verhindert, dass bei der Anrechnung von Vermögen bei 70 000 Menschen, die Erwerbsarbeit leisten, massive Verbesserungen stattfinden. Die Vermögensgrenze wird von derzeit 2 600 Euro auf 50 000 Euro angehoben wird. Das ist die Perspektive bis 2020. Wichtig ist, dass die Ehepartnerinnen und Ehepartner von der Mitfinanzierung befreit werden und für die 300 000 Menschen in den Werkstätten das Arbeitsfördergeld verstärkt wird. Auch deren Recht auf ein Sparbuch wird gestärkt. Wer sagt, dass das nicht sein Gesetz sei, der gibt den Menschen, die betroffen sind, kein Brot, sondern Steine.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden und einen Prozess starten. Wir sind nicht am Ende, sondern wir haben jetzt einen wichtigen Prozess mit dem Teilhabegesetz gestartet. Dadurch werden Türen geöffnet, und die Räume werden weiter ausgestaltet. Das Gesetz zeugt von einer lebendigen Demokratie – es gab vielfältige Aktionen im Parlament und außerhalb des Parlaments – und von selbstbewussten Abgeordneten. Es zeigt, dass die Teilhabe behinderter Menschen in allen Facetten des Lebens unumkehrbar von heute an vorangeht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Kerstin Tack.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7038477 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 206 |
Tagesordnungspunkt | Bundesteilhabegesetz |