Franziska BrantnerDIE GRÜNEN - Familienpolitik
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie haben den Titel unseres Antrags gerade vorgelesen: Wir wollen Familien stärken und Kinder fördern. Familien brauchen unsere Unterstützung, und Kinder gehören stärker gefördert.
Familie ist für uns klar dort, wo Menschen kontinuierlich Verantwortung füreinander übernehmen. Familie ist da, wo Kinder sind – egal, ob die Eltern verheiratet oder getrennt sind, noch nie zusammen waren oder im Regenbogen zusammenleben. Kinder machen Familie aus. Deshalb muss sich auch die Förderung von Familie daran orientieren, wo Kinder sind. Das ist unsere zentrale Aussage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben ein drängendes Problem in Deutschland: Mehr als 2,5 Millionen Kinder wachsen in Deutschland in einer Familie auf, die von Armut bedroht ist oder SGB-II-Leistungen für sich und ihre Kinder bezieht. Das sind fast 20 Prozent. Fast jedes fünfte Kind ist also betroffen.
Diese Kinder sind nicht dabei, wenn die Freundinnen zusammen ins Kino gehen. Sie spüren die Blicke der anderen, wenn zu Beginn des neuen Schuljahres der Ranzen noch der aus der ersten Klasse ist. Wir wissen aus Studien, dass bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien ein größeres Risiko besteht, dass sie erkranken, dass diese Kinder häufiger unter psychischen Auffälligkeiten leiden oder Opfer von Gewalt werden. Armut grenzt aus und tut weh; sie beeinflusst das Leben von Kindern und auch ihr späteres Erwachsenenleben nachhaltig. Das müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das können wir auch ändern. An diese Aufgabe müssen wir uns endlich machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Die Bekämpfung von Kinderarmut ist daher ein prioritäres Ziel grüner Familien- und Sozialpolitik. Dabei geht es uns um drei Bereiche: Kinder brauchen gute Bildung, gute gesellschaftliche Teilhabe und auch genügend Geld.
Mit Blick auf den ersten Aspekt, die Bildung, kämpfen wir – das wissen Sie; das brauche ich hier nicht weiter auszuführen – schon lange dafür, dass der Bund mehr Geld zur Verfügung stellt, auch um die Qualität der Kitas zu steigern.
Zum zweiten Aspekt, der gesellschaftlichen Teilhabe: Wir alle wissen, dass das Bildungs- und Teilhabepaket nicht bei den Kindern ankommt. Denn die Inanspruchnahme ist so gering: Die Möglichkeit der Nachhilfe nehmen nur 9 Prozent der anspruchsberechtigten Kinder wahr. Die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen oder in einen Verein zu gehen, nehmen nur 21 Prozent der Kinder in Anspruch. Dieses Teilhabepaket kommt bei den Kindern also nicht an. Wir können es uns in diesem Land aber nicht leisten, dass diese Kinder ausgeschlossen werden und nicht das bekommen, was ihnen eigentlich zusteht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir wollen deswegen die Angebote dorthin bringen, wo sich die Kinder aufhalten: in die Kitas und Schulen. Die Debatten über das Kooperationsverbot bieten uns da eigentlich eine ganz gute Chance.
Liebe Frau Brantner, darf der Kollege Patzelt eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Frau Dr. Brantner, danke schön, dass ich die Frage stellen kann, auch wenn Sie im Text inzwischen schon etwas weiter waren.
Ich war sehr verwirrt darüber, dass gerade Sie als Grüne, die hier für die grüne Fraktion mit entscheidender Stimme sprechen, materielle Statussymbole sozusagen als Kriterium oder Maßstab für den Wert von Kindern sehen. Die Sache mit dem Ranzen hat mich sehr erschüttert. Ich habe meine Kinder so erzogen: Einen Ranzen, der noch gut funktioniert, tragt ihr mit Selbstbewusstsein. – Sie sagen jetzt: Es wird zu einer Verunsicherung der Kinder führen, wenn es keinen neuen Ranzen gibt. – Könnten Sie sich dazu noch einmal äußern?
Herr Patzelt, das erste Beispiel, das ich genannt habe, war: zusammen ins Kino gehen. Das ist für mich kein Statussymbol, sondern klassische Kultur. Das gehört eindeutig dazu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Zum zweiten Beispiel, das Sie jetzt angesprochen haben. Ja, es ist für Kinder eine entscheidende Frage, wie sie in ihrem sozialen Umfeld auftreten können und was sie haben. Wir wissen, dass Armut relativ ist. Es ist eine tief gehende Debatte, die wir in diesem Land haben. Wir müssen anerkennen, dass sich ein Kind zurückgesetzt fühlen kann, auch wenn es nicht hungern muss. Wir als Grüne sind zutiefst davon überzeugt, dass Armut auch davon abhängt, was im jeweiligen sozialen Umfeld möglich ist. Daran macht sich das fest. Armut ist relativ, und deswegen sind solche Aspekte für Kinder in unserer deutschen Gesellschaft eine Frage der Teilhabe und des Dazugehörens.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Susann Rüthrich [SPD] – Martin Patzelt [CDU/CSU]: Danke für die Antwort! Ich merke, dass Sie, was materielle Nachhaltigkeit angeht, Kompromisse eingehen, die ich von Ihnen nicht erwartet habe!)
– Wir haben nie gesagt, dass Familien kein Geld brauchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Susann Rüthrich [SPD])
Von daher: Natürlich braucht man auch eine materielle Absicherung. Wir wären die letzten, die das verneinen würden.
Der dritte Aspekt – jetzt komme ich zum Geld, Herr Patzelt –: Die beste Armutsbekämpfung besteht weiterhin in der Erwerbstätigkeit beider Eltern. Wenn ein ausreichendes Einkommen nicht möglich ist, weil die Eltern keinen Job finden, weil sie trotz Vollzeitjob zu wenig verdienen oder auch mit mehreren Jobs zu wenig haben oder weil nur ein Elternteil für die Familie sorgen kann, müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Kinder nicht die Leidtragenden sind. Wir wollen, dass diejenigen, die heute zu wenig haben, endlich mehr bekommen, nämlich das, was sie brauchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das bedeutet für uns zweierlei: dass erstens die Regelsätze zu erhöhen sind und dass zweitens Familien mit geringem Einkommen verlässlich unterstützt werden und das Existenzminimum gesichert bekommen.
Erstens zu den Regelsätzen. Darüber haben wir in dieser Woche schon eine Debatte geführt; mein Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn hat dazu etwas ausgeführt. Kinder brauchen ihre tatsächlichen Bedarfe gedeckt. Da ist eben auch mal ein Eis im Sommer mit dabei. Dazu gehören die Sachen, die andere Kinder in diesem Land auch haben.
Zum zweiten Punkt. Viele Familien arbeiten – vielleicht nur Teilzeit, vielleicht auch Vollzeit –, und es reicht nicht, dass sie nicht in Armut leben. Dafür gibt es eigentlich den Kinderzuschlag. Aber wir alle wissen: Der kommt nicht an. Nur ein Drittel der Berechtigten hat den am Ende des Monats wirklich auf dem Konto. 70 Prozent schaffen diese Hürde nicht. Sie leben de facto in verdeckter Armut. Selbst der Kinderzuschlag deckt nicht das sächliche Existenzminimum.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bund definiert regelmäßig das Mindeste, was Kinder zum Leben brauchen. Das ist das Existenzminimum. Das ist im Steuerrecht freigestellt, aber das bekommen diese Kinder nicht. Warum ist es so, dass es bei den einen im Steuerrecht freigestellt wird, es bei den anderen finanziell aber nicht ankommt? Das ist eine große Ungerechtigkeit, und die müssen wir endlich beenden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir wollen deswegen, dass alle Kinder das bekommen, was sie brauchen, nämlich mindestens das Existenzminimum – das auch automatisch und ohne Antrag, genauso wie es bei den Freibeträgen ist. Wir wollen für jedes Kind, das in einem Alleinerziehendenhaushalt aufwächst und dessen Elternteil nicht genügend oder gar keinen Unterhalt bekommt, erreichen, dass man nicht mehr permanent von Amt zu Amt laufen muss, dass es nicht mehr die zeitliche Begrenzung gibt, die keiner mehr nachvollziehen kann. Deswegen wollen wir das umstellen, sodass dieses Kind und der Elternteil das Geld direkt bekommen, ohne große Anträge, und dass die Einkommensanrechnung beim unterhaltspflichtigen Elternteil stattfindet.
(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist eine Sozialleistung!)
Das würde Alleinerziehende echt entlasten, sowohl wenn es um das Materielle geht, als auch wenn es um die psychische Belastung geht, um die Klagen, um den Streit. Wir müssen da rauskommen und sagen: Wir sichern euch eure Existenz, das gute Aufwachsen für eure Kinder. Das ist die Verantwortung dieses Staates.
Frau Kollegin.
Dann kommen wir endlich, hoffentlich, zu einer besseren Bekämpfung der Kinderarmut. Das ist unser Ziel. Lassen Sie es uns gemeinsam angehen. Ich freue mich auf die Beratungen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort erhält nun der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7039114 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 207 |
Tagesordnungspunkt | Familienpolitik |